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Interview mit Joker-Star Joaquin Phoenix„Leute denken oft, ich sei voller Probleme”

Lesezeit 8 Minuten

Joaquin Phoenix in einer Szene des Films „Joker“

  1. Seit gut einer Woche läuft „Joker“ in den deutschen Kinos und macht seither vor allem mit seiner Schockwirkung auf das Publikum auf sich aufmerksam.
  2. Angesiedelt im DC-Universum, in dem auch Batman und Superman zuhause sind, wird diesmal der Antagonist in den Fokus gestellt. Dennoch gleicht „Joker“ viel mehr einer düsteren Charakterstudie als einer klassischen Comic-Verfilmung.
  3. US-Schauspieler Joaquin Phoenix werden für seine Darstellung des Jokers große Chancen auf den Oscar eingeräumt. Im Interview spricht er über die Rolle, seine unbeschwerte Kindheit und warum er sich für Resozialisierungsprogramme in den USA einsetzt.

Das muss man gesehen haben: Wie der amerikanische Schauspieler Joaquin Phoenix in seinem neuen Film „Joker“ (seit 10. Oktober im Kino) den irrlichternden Psychopathen mit dem kranken Grinsen gibt, ist schlicht phänomenal.

Phoenix ist dafür bekannt, schwierige Charaktere mit großer Leidenschaft auf die Leinwand zu bringen. Als römischer Kaiser Commodus war er in „Gladiator“ (2000) der mächtige Gegenspieler von Russell Crowe, in „Walk the Line“ (2006) war er als Country-Legende Johnny Cash absolut authentisch, ebenso in „The Master“ (2012) als traumatisierter Veteran des Zweiten Weltkriegs. Jede dieser Rollen brachte ihm eine Oscar-Nominierung ein.

Mit seiner furiosen Joker-Interpretation hat er diesmal große Chancen, den Oscar tatsächlich zu bekommen. Und die Zeichen stehen gut. Auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig wurde „Joker“ mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Wir sprachen mit Joaquin Phoenix in Los Angeles.

Mr. Phoenix, man hatte bisher den Eindruck, dass Sie Comic-Book-Verfilmungen gar nicht mögen. Als man Ihnen anbot, Hulk oder Doctor Strange zu spielen, haben sie jedes Mal dankend abgelehnt. Was gab denn den Ausschlag, dass Sie beim Joker zugesagt haben?

Mich hat es tatsächlich nie gereizt, bei den großen Marvel-Comic-Franchise-Movies mitzumischen. Denn da hätte ich als Hulk oder Doktor Strange gleich für mehrere Filme unterschreiben müssen und mich auf Jahre hinaus auf diese Rolle festlegen lassen.

„Joker“ hingegen ist ein Film, der aus dem Muster der üblichen Comic-Bombast-Movies sehr deutlich herausfällt, denn eigentlich ist er ja eine Charakterstudie. Er zeigt, wie aus einem psychisch angeschlagenen jungen Mann namens Arthur Fleck der „Joker“ wird.

Diese Entwicklung – oder Deformation, wenn man das so bezeichnen will – ist das Kernstück der Geschichte. Und das darzustellen hat mich unheimlich fasziniert. Außerdem war von vornherein klar, dass es keinen weiteren „Joker“-Film mit mir geben wird.

Sie sind bekannt dafür, sich intensiv in Rollen einzuarbeiten. Wie haben Sie denn diesen extrem gestörten, narzisstischen Killer in den Griff bekommen?

Ich weiß gar nicht, ob ich das habe. Denn Arthur ist eine extrem schillernde Figur, die viele neurotische Facetten hat und fast ständig unter furchtbaren Gemütsschwankungen leidet. Das hat mir bei den Dreharbeiten sehr geholfen.

Ich musste mich also gar nicht um eine stringente Charakterzeichnung kümmern. Aber die Schauspielerei funktioniert für mich sowieso immer dann am besten, wenn ich ganz im Moment bin und alles, was auf mich einströmt, aufnehme und instinktiv darauf reagiere.

Der französische Regisseur Truffaut hat Dreharbeiten mit einer Postkutschen-Fahrt verglichen: Zu Beginn freut man sich, dass es endlich los geht – und gegen Ende hofft man nur noch, dass man auch tatsächlich ankommt.

(Lacht) Das kann ich nachvollziehen. Es ist wie beim Football oder Basketball. Da gibt es Spieler, die gehen mit vollem Elan zur Sache, und dann gibt es welche, die hängen mehr tot als lebendig auf dem Spielfeld herum und warten sehnlichst auf den Abpfiff. Bei langen Dreharbeiten bin ich sowohl der eine als auch der andere.

Das Schönste am Drehen ist, wenn es einfach läuft – und ich weiß gar nicht genau, wieso. Ich erinnere mich an ein Basketball-Spiel, bei dem Michael Jordan über 60 Punkte gemacht hat. Nach seinem letzten Korb lief er lachend zurück und zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: „Ich habe keine Ahnung, wie ich das geschafft habe!“ In diesen Flow zu kommen, das ist es, was ich anstrebe.

Dazu gehört viel Selbstvertrauen.

Ja, aber das Wichtigste für mich ist, dass ich dabei dem Regisseur absolut vertrauen kann. Nur so kann ich mich komplett fallen lassen. Todd Phillips ist so ein Regisseur. Todd versteht dieses Suchen nach dem richtigen Feeling.

Man darf nicht vergessen, dass ja viel mehr gedreht wird, als dann schließlich im Film zu sehen ist. Allein für die relativ kurzen Sequenzen mit Robert De Niro als Talk-Show-Moderator haben wir drei Tage lang gedreht. Da geht auch mal was daneben. Aber Todd war immer ganz nah am Geschehen. Er gab mir die Sicherheit und auch den Ansporn, immer weiter zu gehen.

Konnten Sie dieses furchtbar irre Lachen, das Sie im Film haben, nach dem Ende der Dreharbeiten schnell wieder loswerden?

Das hat in der Tat einige Zeit gedauert. Aber jetzt lache ich wieder ganz unbeschwert, wie Sie hören können. Ich gehöre nicht zu den Schauspielern, die sich von ihrer Rolle nur schwer lösen können.

Natürlich waren diese Dreharbeiten sehr intensiv. Währenddessen habe ich mich fast ausschließlich mit der Rolle befasst. Gedanklich und auch emotional. Der „Joker“ wurde also in gewisser Weise mein Leben. Ich habe ihn gespielt, mit dem Regisseur darüber geredet, abends die neuen Texte für den nächsten Tag auswendig gelernt und dann etwas geschlafen. Am nächsten Morgen wieder ans Set.

Ich habe mich während dieser Zeit mit niemandem getroffen, kaum telefoniert. Ich war auf einer strengen Diät, deshalb konnte ich mich nicht mal mit jemanden auf einen Drink oder zum Abendessen verabreden. Aber dann war Drehschluss – und jetzt ist der „Joker“ Geschichte.

Als „Joker“ haben Sie mit vielen inneren Dämonen zu kämpfen, müssen Ängste und Traumata verdrängen. Färbt so etwas nicht auch auf Sie persönlich ab?

Nein, nicht wirklich. Ich bin ein sehr fröhlicher und ausgeglichener Mensch. Allerdings habe ich oft das Gefühl, die Leute denken, ich sei voller Probleme und schrecklicher Erlebnisse, die mich ständig quälen und heimsuchen.

Das hängt wahrscheinlich vor allem damit zusammen, dass mein Bruder River vor 26 Jahren einen tragischen Tod gestorben ist, bei dem ich Zeuge war. Und dass mein telefonischer Hilferuf, den ich damals machte, um so schnell wie möglich einen Krankenwagen zu bekommen, tagelang in den Medien immer und immer wieder abgespielt wurde. Das alles hat mich natürlich geschockt. Mit der Zeit bin ich aber darüber hinweggekommen.

Sie hatten eine glückliche Kindheit?

Auf jeden Fall. Wenn ich mir diverse Lebensgeschichten von Freunden und Bekannten vor Augen führe, kann ich sagen, dass ich verdammtes Glück hatte. Ich war mit meinen Eltern und Geschwistern – natürlich auch mit River – ein Herz und eine Seele.

Wenn ich mich heute mit Freunden über deren Kindheit unterhalte, bedauere ich sie sehr oft. Denn meine Kindheit war sehr viel besser und unbeschwerter. Ich bin in einer sehr harmonischen Familie aufgewachsen. In der es viel Liebe, Freude und Verständnis gab. Das hat mich sehr geprägt und mir ein gutes Fundament gegeben, um mein Leben darauf aufzubauen.

Die Probleme, mit denen ich mich heute herumschlage, haben meist einen kosmischen Ursprung. Ich kann zum Beispiel immer noch nicht wirklich begreifen, wie ich in der materiellen Welt lebe und doch auch ein Teil der spirituellen Welt bin.

Das klingt sehr abgeklärt für einen Hollywood-Star…

… lassen wir den „Star“ jetzt mal weg. Ich bin vor allem Mensch – ein suchender Mensch, der noch viele Fragen ans Leben hat. Aber ein paar Antworten habe ich auch schon gefunden. Früher habe ich, zum Beispiel, viel geraucht und auch sehr gerne Alkohol getrunken. Das mache ich schon lange nicht mehr.

Für mich ist inzwischen sehr wichtig, dass ich mit meinem Körper im Einklang lebe. Wenn ich meinen Körper vernachlässige und mich zum Beispiel schlecht ernähre, hat das sehr schnell negative Auswirkungen auf meine Stimmung. Und es geht mir auch geistig schlecht.

Im Gegensatz dazu fühle ich mich sehr wohl, wenn ich vegan esse, lange Spaziergänge mache und genügend Schlaf bekomme. Ich lebe sehr bewusst und intensiv – meist weitab von Hollywood.

Können Sie das näher erläutern?

Ich reise zum Beispiel sehr gerne. Und ich verbringe viel Zeit mit meiner Familie. Ich habe immer noch ein sehr enges Verhältnis zu meinen Geschwistern und meiner Mutter. Und von meiner Mutter habe ich meinen unausrottbaren Optimismus.

Meine Mom ist die größte Idealistin und Optimistin überhaupt. Sie müssen sich mal vorstellen: In meiner frühen Kindheit lebte unsere Familie oft an der Armutsgrenze. Aber ich habe das nie als Mangel oder gar Bedrohung empfunden. Wir waren eine fröhliche Familie mit viel Liebe und Freude in unserem Leben. Das hat mich stark geprägt.

Diese Freude in die Welt zu tragen und anderen zu helfen ist mir auch heute noch ein großes Anliegen. Deshalb habe ich zusammen mit meiner Mutter im Jahr 2012 „The River Phoenix Center for Peacebuilding“ gegründet. Da gibt es das Programm „Restorative Justice“, in dem meine Mom sehr aktiv ist.

Was genau wird dort gemacht?

Dort versuchen wir, Opfer und Täter zusammenzubringen, damit sie miteinander über die Tat reden. Wir haben da großartige Erfolge zu verzeichnen. Ich bin ein großer Fan von Resozialisierung.

Ich halte das amerikanische Rechtssystem für total rückwärtsgewandt. Da gilt immer noch: hart bestrafen und einsperren. Obwohl das ja gezeigt hat, dass es überhaupt nichts nützt. Sonst wären unsere Gefängnisse wohl kaum so überfüllt.