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„Katastrophal und rücksichtslos”Grundschullehrer kritisieren NRW-Regierung scharf

Lesezeit 8 Minuten

Mindestabstand einhalten? Ist mit Kindern im Grundschulalter nicht immer ganz einfach.

  1. Lehrer haben während der Corona-Krise keinen guten Ruf. Zu faul, zu unflexibel, beschweren sich viele Eltern.
  2. Ein Gewerkschaftler und Grundschullehrer aus Frechen erzählt im Interview, welche Sorgen ihn vor der anstehenden Öffnung für alle Grundschüler besonders umtreiben und von den gigantischen Herausforderungen für Lehrer.
  3. Außerdem erklärt Alexander Blumberg, warum er sich von der Politik enorm im Stich gelassen fühlt.

Herr Blumberg, Sie sind Vorsitzender der Fachgruppe Grundschule der Gewerkschaft GEW im Rhein-Erft-Kreis und selbst Grundschullehrer. Auf Ihrer Berufsgruppe wird gerade viel rumgehackt: ewige Coronaferien, digital unflexibel, faul. Trifft Sie das?

Ja, durchaus. In der Öffentlichkeit geht man – auch wegen Aussagen von Schulministerin Gebauer – teilweise davon aus, dass wir erst diese Woche wieder zu arbeiten angefangen haben. Die Wahrheit ist aber: Wir arbeiten seit dem 13. März durch.

Was tun Sie denn?

Das ist natürlich je nach Schule und Standort unterschiedlich. Wenn ich mich so bei den Kollegen umsehe, dann gibt es da sehr verschiedene Anstrengungen: Für alle Kinder wurden Online-Lernpakete erstellt. Nicht alle Familien verfügen aber über die Möglichkeit zum Ausdrucken. Daher wurden in vielen Schulen Materialpakete auch ausgedruckt zum Abholen bereitgestellt. Einige Kolleginnen haben das Material sogar persönlich bei ihren Schülern eingeworfen. Wir haben zusammen mit den pädagogischen Kräften des Nachmittags („OGS“) an alle Kinder Ostercare-Pakete mit Ausmalbildern, Rätseln und Süßigkeiten verschickt, wir haben Aufgaben gestellt, und mehr und mehr haben die Kolleginnen und Kollegen Erklärvideos auf ihren privaten Handys gedreht und die verschickt. Und dann trifft man seinen Nachbarn und der sagt: Na, immer noch Ferien? Das trifft mich dann schon.

Was ist mit Unterricht via Zoom?

Das können wir in der Grundschule nicht verpflichtend machen. Zunächst ist da die Frage nach dem Datenschutz, die bei den meisten Diensten nicht ausreichend gegeben ist. Dementsprechend kann ich eine Videokonferenz höchstens auf freiwilliger Basis anbieten. Dann haben nicht alle Kinder Endgeräte. Außerdem sind nicht immer Eltern zu Hause, die das begleiten können. Ist aber beispielsweise ein Drittklässler zeitweise alleine, weil die Eltern außer Haus arbeiten, kann man ihm auch kein internetfähiges Handy ohne Aufsicht überlassen. Außerdem müssen Sie bedenken: Schon wir Erwachsene haben zum Teil Probleme, uns an die Regeln der Videotelefonie zu gewöhnen. Da kommt der Ton zeitversetzt an, es darf immer nur einer reden. Mit 24 Erstklässlern, die vor den Rechnern sitzen, ist das ein riesiges Chaos. Auch wir Lehrer haben nicht die nötige Hardware. Da scheitert es oft schon an der Webcam, die man gerade nicht bekommt, weil alle ausverkauft sind. Man muss auch wissen, dass das Land uns trotz massiver Forderungen der Gewerkschaft Endgeräte bislang verweigert hat. Wir dürfen dienstliche Aufgaben eigentlich nur mit den ein bis zwei Computern bearbeiten, die pro Grundschule zur Verfügung stehen.

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Schule ist ja nicht nur Wissensvermittlung. Gerade bei Grundschülern ist auch die psychosoziale Betreuung wichtig. Konnten Sie das irgendwie aufrechterhalten?

Alle Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne, sind da sehr engagiert. Ich habe alle Familien angerufen und gefragt, wie es ihnen geht, und ob sie mit den Lernaufgaben klarkommen. Auch mit meinen Schülern habe ich telefoniert. Mit Grundschülern führt man keine ewigen Gespräche, aber man merkt, dass die meisten sich sehr über solche Anrufe freuen. Wir dürfen auch die Mitarbeiter des Ganztags nicht vergessen, die gerade auch bei dem Punkt der psychosozialen Betreuung mit ins Spiel kommen. Wir haben an unserer Schule z. B. gemeinsam auch Botschaften für unsere Klassen verschickt: Jede pädagogische Kraft hält einen Buchstaben hoch, daraus setzt das Kind dann: „Wir vermissen euch – viele Grüße!“ zusammen. Gerade jetzt habe ich ein Video mit den beiden Kuscheltier-Löwen unserer Klasse gedreht und das allen meinen Drittklässlern zugeschickt. Wir haben immer darüber nachgedacht, wie wir den Kindern vermitteln können: Wir sind noch da – und: Wir sind für Euch da!

Manche Eltern haben sich beschwert, dass einige Lehrer nicht erreichbar waren, keine Handynummern rausgegeben haben.

Ich kann dazu von meiner Schule sagen, dass wir enorm viel positive Rückmeldung bekommen haben, über die wir uns alle sehr freuen. Aber jeder ist da natürlich anders, jede Schule organisiert das anders. Manche wollen nur über Mail angeschrieben werden. Aber alle Lehrkräfte, die ich kenne, waren über irgendeinen Weg erreichbar. Natürlich gibt es sicher wie überall auch negative Ausnahmen. Klar.

Haben Sie sich vom Ministerium und der Landesregierung gut unterstützt gefühlt?

Das war ehrlich gesagt katastrophal. Alle Direktiven kamen so kurzfristig, dass wir kaum Zeit hatten, darauf zu reagieren. Und nicht selten gab es auch ein chaotisches Hin und Her.

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Alexander Blumberg fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. 

Was meinen Sie genau?

Zum Beispiel als beschlossen wurde, dass die Kinder aller Alleinerziehenden einen Anspruch auf Notbetreuung haben. Die Mail dazu kam am Freitagabend um 22 Uhr. Und am Montag sollten die Kinder kommen. Wir mussten also übers Wochenende alle Dienstpläne der Kollegen revidieren und die Kinder in neue Gruppen aufteilen. Das hätte doch nicht sein müssen, das ist rücksichtslos gegenüber den Lehrkräften, die vielleicht selbst Kinder haben und umplanen müssen, und es ist rücksichtslos gegenüber den Schulleitungen, die das organisieren müssen. Da kann man doch ein paar Tage Vorlauf geben. Außerdem haben wir viele Entscheidungen erst aus den Pressekonferenzen erfahren. Die Ministerin hat also die Presse informiert und erst danach uns. Das fand ich sehr unglücklich.

Und was meinen Sie mit Hin und Her?

Wir haben uns jetzt auf die Viertklässler am kommenden Donnerstag vorbereitet. Wir haben alle Vorbereitungen getroffen, alle Klassenräume mit großen Stühlen ausgestattet, weil wir ja doppelt so viele Räume für die Kinder brauchen. Dann kam plötzlich am Donnerstagmittag eine Mail vom Ministerium, dass am Montag drauf schon alle anderen Kinder in einem rollierenden System dazukommen. Unser Plan war damit komplett dahin. Wir mussten neu überlegen, wie wir jetzt 250 Schüler aller Klassen abwechselnd unterrichten und nachmittags betreuen. Und dann ruderte Laschet am Abend wieder zurück: Wann die anderen Klassen dazu kommen, wird jetzt erst nächste Woche entschieden. Dieses Hin und Her macht uns noch zusätzlichen Stress. Und eine Menge der Organisationsarbeit, die insbesondere Schulleitungen machen, landet wieder im Papierkorb. Hier verletzt das Land seine Fürsorgepflicht uns gegenüber. Die Organisation von so vielen Grundschülern, die den Mindestabstand einhalten sollen, ist ohnehin nicht einfach.

Was müssen Sie alles beachten?

Eine ganze Menge. Den Mindestabstand natürlich. Die Kinder müssen mindestens auf zwei Klassenräume aufgeteilt werden. Auch auf den Toiletten gilt Mindestabstand: Also dürfen da jeweils nur noch zwei Schülerinnen oder Schüler gleichzeitig rein. Der Stundenplan für die Lehrerinnen und Lehrer gleicht einem riesigen Puzzle. Wir brauchen ja nun für jede Klasse eine Doppelbesetzung, da in zwei Räumen unterrichtet wird. Und gleichzeitig soll aber natürlich jeder Lehrer so wenig Lerngruppen wie möglich betreuen, damit die Anzahl der Kontakte so niedrig wie möglich gehalten wird. Hinzu kommt die Notbetreuung, die wir gemeinsam mit dem Personal des Nachmittags wuchten, und ja beinahe wöchentlich ausgeweitet wurde, und für die wir Räume und Personal benötigen.

Zur Person

Alexander Blumberg (47) ist Vorsitzender der Fachgruppe Grundschule der GEW im Rhein-Erft-Kreis und Grundschullehrer.

Was ist das Hauptproblem?

Die „freien“ Zeiten, also die Pausen, die Bewegungsangebote, die Betreuungszeit am Nachmittag. Der Unterricht geht noch – so lange alle Schüler auf ihrem zugewiesenen Platz sitzen. Was Erstklässler natürlich auch nicht unbedingt machen. Aber nachmittags war es schon jetzt in der Notbetreuung schwierig. Wir mussten den Kindern eigentlich alles verbieten. Alle Spiele, bei denen man sich zu nahe kommt. Und das sind eine Menge: Fußball, zu zweit auf dem Klettergerüst, Fangen, nebeneinander im Sandkasten. Da kommt es dann zu absurden Situationen, dass wir beispielsweise einen Jungen an die Tischtennisplatte schicken mussten und der sagt: Ich spiele aber gar kein Tischtennis! Und wir: Das ist jetzt egal. Wir haben keinen anderen Platz frei.

Wenn jetzt bald alle Kinder kommen, wird das sicher noch schwieriger.

Klar. Wir haben bei uns eine Nachmittagsbetreuungsquote von neunzig Prozent, wenn immer alle Schüler nachmittags hier spielen, die vormittags Unterricht hatten, dann sind das weit über 70. Bislang hatten wir höchstens 15 Kinder auf einmal hier. Aufgeteilt auf vier Gruppen. Bei 70 Kindern, die sich ja alle bewegen wollen, die spielen wollen, die mit ihren Freundinnen und Freunden sprechen wollen, ist die Betreuung eine riesige Herausforderung.

Wie sieht es mit den Masken in den Grundschulen aus? Klappt das?

Na ja, das kann man nicht wirklich sagen. Besonders in den ersten und zweiten Klassen sind die Masken nicht immer da, wo sie sein sollen. Der eine wirft sie durch das Klassenzimmer, der andere isst sie halb auf und tropft dann den Tisch damit voll, irgendwann findet sich die Maske des einen Kindes im Ranzen des anderen. Es kann auch vorkommen, dass zwei die Masken tauschen.

Haben Sie denn nicht selbst Sorge, krank zu werden?

Ich persönlich sehe das relativ gelassen. Wenn es mich erwischt, werde ich schon klarkommen. Sehr kritisch sehe ich aber, dass wir eben dienstverpflichtet werden, jetzt wieder Unterricht zu machen. Wenn alle Kinder wieder in die Schule kommen, dann sind wir hier täglich im größten Virenpool Deutschlands unterwegs. Da gibt es zum Beispiel Kollegen, deren Kinder Asthma haben oder welche, da sitzt eine kranke Mutter mit zu Hause. Die können das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Natürlich gibt es dazu Regelungen, aber eben auch viele Grauzonen. Wir dürfen uns freiwillig melden, Unterricht zu machen, auch wenn wir Risikoperson sind. Aber auch gesunde Lehrer müssen bedenken: Was ist mit den Spätfolgen? Und wird das Land bezahlen, wenn meine Krankenkasse sagt: Sie haben sich freiwillig gemeldet, also sind die Folgekosten Ihr Problem? – Sicherlich nicht.