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Medizinprofessorin Stephanie Stock„Fehltage wegen Depressionen sind alarmierend“

Lesezeit 5 Minuten
Stephanie Stock

Dr. Stephanie Stock ist Professorin für angewandte Gesundheitsökonomie und patientenzentrierte Versorgung an der Kölner Uniklinik.

Im Ruhrgebiet gibt es die meisten Fehltage, in Städten wie Bonn, Köln, Düsseldorf und Münster melden sich die Menschen weniger oft krank – warum gibt es so einen großen Unterschied?

Es gibt nur Vermutungen, warum es solche Unterschiede gibt, keine Belege aus wissenschaftlichen Studien. Die Unterschiede im Krankenstand sieht man auch zwischen den Bundesländern. So waren zum Beispiel die Bundesländer mit den höchsten Krankenständen 2015 das Saarland (6,4%), Rheinland Pfalz (5,9%) und NRW mit 5,9%. Auch im Gesundheitsreport der AOK liegen die elf Städte mit den höchsten Fehltagen in NRW. Generell liegt der Krankenstand in Ostdeutschland 0,2 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland. In Bayern und Baden-Württemberg ist er am niedrigsten.

Welche Einflussfaktoren gibt es denn?

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Ein Faktor, der die Unterschiede im Krankenstand zwischen dem Ruhrgebiet und dem Rheinland erklären könnte, ist die Beschäftigungsstruktur. Männer, die in verarbeitenden Gewerben arbeiten, wie der Metall-, Chemie-, Holz- oder Kunststoffindustrie oder auf dem Bau, haben höhere Fehlzeiten als Männer, die in der Verwaltung oder in wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Berufen arbeiten. Im Rheinland sind viele Versicherungen und Universitäten ansässig, während es im Ruhrgebiet viel verarbeitendes Gewerbe gibt.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hänge die Zahl der Fehltage vom Wohlstand der jeweiligen Region ab. Ist dem so?

Ja, auch die Bevölkerungsstruktur hat Einfluss auf die Fehltage. Das Ruhrgebiet ist sozial schwächer im Vergleich zu Köln, Bonn, Düsseldorf oder Münster. Sozial schwächere Schichten haben tendenziell eine höhere Morbidität, die sich auch in Fehlzeitenstatistiken niederschlagen kann. Diese Beobachtung gibt es auch auf der Ebene der Bundesländer: Baden-Württemberg und Bayern haben die wenigsten Fehltage während das Saarland, ein eher ärmeres Bundesland, die höchste Quote hat.

Aber auch eine ältere Bevölkerungsstruktur wie sie etwa in den neuen Bundesländern zu finden ist, hat Einfluss: Ältere sind zwar seltener krank, aber häufig länger. Jüngere Arbeitnehmer sind hingegen öfter krankgeschrieben, aber meist nur kurz, etwa wegen Infekten. Es können sich aber auch Unterschiede in der Arbeitslosenquote in den Fehlzeiten spiegeln: So fehlen Arbeitslosengeld-I-Empfänger öfter als der Durchschnitt.

Wie unterscheiden sich die Fehltage von Männern und Frauen?

Geschlechtsunterschiede gibt es insbesondere bei den Diagnosen und bei der Dauer der Krankschreibung. So sind Erkrankungen des Bewegungsapparates bei Männern häufiger als bei Frauen. Sie sind aber häufiger wegen psychischer Diagnosen krankgeschrieben. In Bezug auf die Dauer der Krankschreibung betrifft der wichtigste Unterschied zwischen den Geschlechtern das Herzkreislaufsystem. Männer sind mit einer solchen Diagnose meist 25 Tage arbeitsunfähig und Frauen 17 Tage.

Heißt so ein Ergebnis eines Gesundheitsreports eigentlich, dass die Menschen wirklich mehr oder weniger oft krank sind oder dass sie sich mehr oder wenig häufig krank melden?

Wie belastbar die zur Verfügung stehenden Daten sind, kann ich nicht sagen. Zuerst einmal dienen sie der Beschreibung des Status Quo. Darüber hinaus erlauben sie eine Betrachtung von Entwicklungen: Gegenüber den 1979er und 1980er Jahren ist der Krankenstand rund ein Drittel niedriger. Zurzeit ist er relativ konstant, seit 2014 ist er bundesweit um nur 0,1 Prozent gestiegen. Bei einzelnen Kassen war der Anstieg jedoch höher, etwa bei der TK um 4,2 Prozent – trotz der fortdauernden guten Konjunktur. Das ist interessant, weil der Krankenstand lange mit der Konjunktur variierte: War sie gut, gab es mehr Fehltage als wenn sie schlecht lief, weil man Angst um den Arbeitsplatz hatte. Die Menschen tendieren dann eher dazu, krank zur Arbeit zu gehen. In den vergangenen Jahren entwickelte sich der Krankenstand aber unabhängig von der Konjunktur. Das ist neu. Doch die Statistiken sind nie perfekt – so werden etwa kurze Arbeitsunfähigkeitszeiten häufig nicht erfasst, weil keine Krankschreibung notwendig ist.

Haben sich die Krankheiten verändert, weshalb sich Arbeitnehmer krank melden?

Ja, es ist alarmierend, dass 2015 die Anzahl der Fehltage wegen psychischen Erkrankungen weiter angestiegen ist. Die meisten Fehltage werden durch eine Depression verursacht. Möglicherweise macht sich jetzt der Einfluss von Faktoren bemerkbar wie etwa die zunehmende Arbeitsverdichtung oder die ständige Erreichbarkeit. Beides verursacht Stress, der zu psychischen Erkrankungen führen kann, wenn der Stress nicht bewältigt werden kann.

Was müssen aus Ihrer Sicht für Konsequenzen aus den Gesundheitsreports gezogen werden?

Ich wünsche mir ein verstärktes Engagement der Betriebe mit einem betrieblichen Gesundheitsmanagement. Insbesondere wenn wir uns vor Augen halten, welch große Bedeutung Erkrankungen des Bewegungsapparates und psychische Erkrankungen für die Fehlzeiten haben. Deutsche und internationale Studien zeigen, dass entsprechende Programme durchaus Wirkung zeigen. Aber Unternehmen müssen darüber hinaus aus Arbeitnehmergruppen in den Blick nehmen, die gefährdet sind, besonders lange arbeitsunfähig zu sein – immerhin entfielen 2015 darauf 42,7 Prozent des Krankenstandes.

Gibt es denn bereits Erfolge?

Es ist schon viel passiert. In vielen Betrieben gibt es ein betriebliches Gesundheitsmanagement. Es wird wahrscheinlich in Zukunft auch einen Wettbewerbsvorteil geben, wenn ein Unternehmen in solch ein Management investiert. Dies konnten wir an der Universität Köln bereits für kleinere und mittlere Unternehmen nachweisen. Wichtig ist, dass Arbeitgeber nicht damit aus der Verantwortung entlassen werden, dass sie „Fitnesskurse“ und „gesundes Essen in der Kantine“ anbieten. Sie sollten stattdessen dafür Sorge tragen, ein gesundes Arbeitsklima zu schaffen. Chefs sollten die immer mehr werdende Arbeit und die ständige Erreichbarkeit ihrer Mitarbeiter kritisch hinterfragen. Ebenfalls sollten sie eine Führungskultur ausbauen, die motiviert und auf die Erhaltung physischer sowie psychischer Ressourcen ausgerichtet ist. Damit können Handlungs- und Entscheidungsspielräume für den Einzelnen ermöglicht werden.