Bayer PhilharmonikerBar Avni: „Ich bin in Leverkusen als Dirigentin reif geworden“

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Eine Frau steht vor einer Hausfassade.

Bar Avi hat die Bayer Philharmoniker drei Jahre lang dirigiert.

Drei Jahre lang hat Bar Avni die Bayer Philharmoniker dirigiert. Jetzt verlässt die Musikerin Leverkusen – preisgekrönt und voller Tatendrang.

Frau Avni, wie geht es Ihnen am Ende Ihrer letzten Saison hier in Leverkusen?Bar Avni: Wir machen etwas, worauf ich sehr stolz bin. Das hat das Orchester bestimmt auch früher schon gemacht, aber nicht in diesem Konzept: Wir machen Workshops in Schulen in Leverkusen. Das ist etwas so Cooles. Wir können da mit sehr wenigen Mitteln sehr viel erreichen. Wir haben vorletzte Saison damit angefangen. Ich bin mit fünf Kollegen in die Schulen gegangen. Und dafür brenne ich sehr.

Was ist das Besondere an der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern?Avni: Es ist total offen. Sie wissen im Vorhinein nicht, was da passiert. Weil wir nicht wissen, mit wem wir es da zu tun haben – es ist eben nicht die Junge Philharmonie NRW oder was auch immer – sondern Schülerinnen und Schüler aus der Schule, die vielleicht ein Orchesterinstrument spielen, vielleicht aber auch nicht; vielleicht spielen sie auch überhaupt kein Instrument. Und dann sitzen wir anderthalb Stunden zusammen in einem Raum und du musst erstmal gucken: Okay, was ist hier möglich? Und das Coole ist, dass Musik dann – Avni schnalzt mit den Fingern – sofort ein Kommunikationsmittel wird. Einmal haben wir uns dabei an einer Schule mit 16 Schülern drei Tage lang getroffen und wir haben aus dem Nichts ein sechs Minuten langes Stück komponiert für Percussion, wo wir Alltagsgegenstände für Percussion genutzt haben – zusammen, innerhalb von zwei Tagen. Am dritten Tag war Aufführung. Die Verbindung zur Musik war bei den Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedlich. Und dann mussten sie das Stück komponieren, auswendig lernen, einander zuhören. Sie haben dazwischen improvisiert. Und so etwas gefällt mir total.

Thomas Helfrich: Wenn ich mit Menschen ohne musikalische Vorbildung arbeite, gibt es zwei Dinge, die ich sehr schätze. Das eine ist das Leuchten in den Augen. Wenn man mit Profis arbeitet, wissen die ja in der Regel in etwa, was sie erwartet. Das kann auch Freude machen. Aber ich finde gerade Kinder und Jugendliche nehmen das anders auf so ein Angebot. Ich kann da mehr wagen und ausprobieren. Das finde ich sehr schön. Und zum anderen: Wir haben ein bis zwei Möglichkeiten, junge Menschen zu erreichen, wenn wir versuchen, sie zu interessieren, nicht nur für zeitgenössische Musik, sondern auch für tradierte Musiken. Ich hab' selbst Kinder. Wenn ich es nicht schaffe, sie beim ersten Mal abzuholen, dann habe ich die dafür verloren. Und ich glaube, gerade mit dem, was Bar macht, auch beim Dirigentenduell zum Beispiel, schaffen wir es sehr gut, sie zu erreichen. Das reicht auch, wenn das einmal passiert. Das begleitet die. Und irgendwann werden die darauf zurückkommen. 

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Eine Dirigentin und ein Schüler leiten ein Orchester an.

Dirigentin Bar Avni und Mitglieder der Bayer Philharmoniker erarbeiten mit Schülerinnen und Schülern Auszüge aus „Peer Gynt“ in der Schlebuscher Schulaula des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums

Avni: Wir sind im Kopf ja schon total begrenzt, wenn wir darauf antworten, was Musik eigentlich sein kann. Musik ist ein Werkzeug zum Ausdruck. Im besten Sinne. Wenn wir es auf diese Ebene bringen, ist alles wieder neu. Wir gucken, was Musik sein kann. Es ist nicht diese Probe oder dieses Orchesterkonzert.

Sie sind jetzt drei Jahre hier gewesen, Bar Avni. Was nehmen Sie mit aus Ihrer Arbeit hier?Avni: Sehr viel. Ich bin hier als Künstlerin reif geworden. Das kann ich sagen. Es liegt hoffentlich noch viel vor mir, aber hier bin ich reif geworden. Vorher war ich Studentin. Da habe ich einzelne Sätze oder ganze Instrumentalkonzerte dirigiert, aber ich habe es nicht wirklich geübt und gelebt, eine Dirigentin eines Orchesters zu sein. Das ist viel, viel mehr als eine Partitur vorbereiten. Das ist das, was das Publikum auf der Oberfläche sieht. Das ist schon eine sehr tiefe, interessante Welt für sich, keine Frage. Aber, je tiefer und breiter ich in diesem Beruf gehen kann, desto breiter und tiefer wird es. Ich durfte hier das so tief und breit machen, wie ich kann und alles ausprobieren. Ich hatte dabei sehr viele, sehr gute Ansprechpartner und Mentoren. Wenn ich eine Frage habe oder ich spüre, es gibt ein Problem, kann ich damit zu Thomas gehen und fragen: Du, Thomas, was mache ich...?

Bayer-Philharmoniker Dirigentin Bar Avni / Forum

Dirigentin Bar Avni im Forum mit den Bayer Philharmonikern im September 2021 kurz nach dem Beginn ihrer Arbeit in Leverkusen

Interne Kommunikationsprobleme, so etwas passiert, wie in jeder Beziehung. Nichts läuft einfach so, jedenfalls nicht langfristig. Aber Kommunikation mit dem Orchester interessiert mich total. Ich weiß, ich habe Kollegen, die wollen Sinfonien dirigieren. Das interessiert mich auch, aber auch noch mehr:  die Menschen im Orchester. Jemand deutlich Klügeres als ich hat gesagt: Wir dirigieren nicht die Musik, wir dirigieren die Musiker. Das hat 100 Tonnen Bedeutung. Ich durfte hier einerseits sehr mutig sein und Risiken eingehen. Und trotzdem war ich in einem geschützten Raum. Einen Fehler in Leverkusen machen ist nicht das Gleiche wie einen Fehler in Paris auf der Bühne machen. Ich finde es fantastisch, dass das hier möglich ist. Ich hoffe, dass es noch viele andere junge Dirigenten gibt, die es begreifen, was das hier für eine Chance ist. Auch dieses dreieinhalb Jahre mit einem Orchester arbeiten und die wirklich voranbringen.

Herr Helfrich, ist Ihnen nicht zum Heulen zumute?Helfrich: Gute Frage. Ich glaube, wir haben damals, als wir uns verständigt haben, dass du kommst, Bar, sehr klar gesagt: Maximal drei Jahre, dann musst du weg. Bevor wir uns kannten. Weil ich glaube, dass es total wichtig ist. Natürlich wäre es einerseits super, wenn Bar hierbliebe. Ich weiß aber nicht, ob es am Ende des Tages so super für Bar wäre. Weil es in ihrem Alter wichtig ist, sich sehr schnell zu entwickeln. Das Zeitfenster ist da nicht groß, wie bei den meisten künstlerischen Berufen. Die Voraussetzungen hier sind super. Man kann es sich hier sehr schnell sehr bequem machen. Aber dann kommt der Punkt, an dem man nicht mehr weiter kommt. Ich würde also mehr heulen, wenn ich ein Talent wie Bar hier dauerhaft hätte, anstatt, dass sie rausgeht. Da habe ich ein anderes Verständnis von Karriereentwicklung.

Bezogen auf die Bayer Symphoniker ist das schon ein Kulturwechsel. Der erste künstlerische Leiter war hier 36 Jahre, der zweite fast 40 und der dritte immerhin noch ein Jahrzehnt, Bar Avni drei Jahre.Helfrich: Das ist eine Philosophiefrage. Ich habe es lieber, dass Bar Avni immer wieder zu uns kommt und dann wir davon profitieren von dem, was sie woanders lernt. Für uns ist das, was Bar Avni macht, ja total nah an dem, was wir im Unternehmen machen. Dirigieren ist nichts anderes als eine Leadership-Aufgabe. Dirigieren ist da ja das Brutalste, was es gibt. Nichts zeigt einem so wie Dirigieren sofort Defizite auf. Wenn ich einen Menschen dirigieren sehe, weiß ich sofort, was das für eine Führungspersönlichkeit ist.

Thomas Helfrich, Bayer Kultur, und Bar Avni vor dem Erholungshaus

Thomas Helfrich, Bayer Kultur, und Bar Avni vor dem Erholungshaus

Was ist Bar Avni für eine Führungspersönlichkeit?Helfrich: Darüber haben wir sehr viel gesprochen. Sie ist sehr ernsthaft und empathisch und manchmal auch ein Mensch, der ein Stück weit mit sich selbst hadert. Ist das alles gut, was ich mache? Funktioniert das so? Ich glaube, dass es für ein Laienorchester gut ist, immer wieder andere Führungspersönlichkeiten kennenzulernen. Deswegen ist es schon schade, dass du gehst. Was mir wichtig ist, ist, dass auch das Orchester eine Art von Diversität lernt. Am Ende des Tages ist das Orchester autonom in seiner Entscheidung über seinen Dirigenten oder seine Dirigentin. Es bezahlt den ja auch. Als Bar in die Start Academy aufgenommen wurde, gab es da aber eben gewisse formale Spielregeln. Aber jetzt, wo das Orchester dich so lieb gewonnen hat, ist es aus meiner Sicht genau der richtige Punkt, um zu gehen. 

Gab es Momente, in denen Sie diesen Reifeprozess als Dirigentin, von dem Sie gesprochen haben, bemerkt haben?Avni: Immer wieder. Natürlich immer wieder dann, wenn ich etwas als musikalisch herausfordernd erlebt habe. Wir waren programmatisch in den dreieinhalb Jahren sehr mutig. Wir haben uns einiges zugemutet. Wir haben zum Beispiel Bach gespielt. Hatte ich vorher nie gemacht. Ich wollte das mit einem kleinen Ensemble und dass die Musiker im Stehen spielen. Da musste ich schwierige Entscheidungen treffen. Dann habe ich das gemacht. Danach guckst du zurück und sagst: Ist gut geworden. Ich habe hier zum ersten Mal Wagner dirigiert. Da musste ich erstmal überlegen, wie ich dazu stehe. Warum mache ich das? Und jetzt habe ich Antworten darauf.

Wie hat das Publikum auf Bar Avni reagiert?Helfrich: Als es den Wechsel gab, kam natürlich auch erstmal sehr viel Skepsis. Wir haben aber immer wieder das Feedback bekommen: Super Entscheidung. Immer wieder kam auch: Unglaublich, was sie mit dem Orchester macht. Es ist eben ein Laien-Orchester. Das sind keine Profis. Da gab es viel Respekt dafür, was sie aus denen rausgeholt hat. 

Avni: Was ich sehr gespürt habe: Das Publikum und ich, wir haben eine Beziehung entwickelt. Ich bin im Laufe der Zeit anders auf die Bühne gekommen, aber auch mein Gefühl, das was vom Publikum rüberkommt, ist immer wärmer geworden. Jetzt, da ich das einmal erlebt habe, interessiert es mich, das auch woanders zu erfahren. 

Herr Helfrich, der Auswahlprozess für Bar Avnis Nachfolgerin oder Nachfolger ist im Gang, richtig?Helfrich: Richtig.

Gibt es da ein Datum, bis wann der abgeschlossen sein soll?Helfrich: Im Rahmen des Movimento-Festivals spielen die Bayer-Philharmoniker bei der Endstation der musikalischen Radtour am 8. September. Bis dahin sollten die jemanden haben. Da muss das Orchester für sich einen Weg finden.