Ulrich Chaussy hat eine äußerst anregende Biografie über einen der wichtigsten Mitarbeiter geschrieben, die Bayer je hatte: Arthur Eichengrün.
BiografieWie Arthur Eichengrün bei Bayer Aspirin und den unbrennbaren Film erfand
1930 ist Arthur Eichengrün auf dem Höhepunkt seines wissenschaftlichen, unternehmerischen und gesellschaftlichen Ruhms. Ausweis dieses Ruhms ist der lange Eintrag über ihn im Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft aus dem gleichen Jahr. Der Miterfinder des Aspirin befindet sich im Handbuch in bester Gesellschaft: 8500 Zelebritäten der Zwischenkriegszeit sind dort porträtiert – ein Who's who der Weimarer Republik, wie Autor Ulrich Chaussy schreibt. Chaussy hat Eichengrün eine mitreißend geschriebene Biografie gewidmet. Der Untertitel von Chaussys Buch – Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst – macht stutzig und neugierig: Wieso sollte es ein so erfolgreicher Mann es nötig haben, sich selbst zu erfinden?
Die Antwort liegt in der gesellschaftlichen und politischen Epoche begründet, in der Eichengrün lebte. Er wurde als Jude geboren, hatte mit dieser Religion aber nichts am Hut, tritt Mitte der 1890er Jahre offiziell aus dem Judentum aus, konvertiert aber nicht zum Christentum. Religion spielt in seinem Leben eigentlich keine Rolle. Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, ist dennoch klar, wohin er ihrer Ansicht nach gehört.
Eichengrün kommt als junger Doktor der Chemie zu Bayer
Doch der Reihe nach: Eichengrün kommt 1867 als Sohn eines Tuchhändlers in Aachen zur Welt. Er entscheidet sich als junger Mann für das Studium der Chemie, im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Trendwissenschaft wie in unserer Zeit die Informatik. Nach dem Studium tritt er am 2. Oktober 1896 in Elberfeld bei den Farbenfabriken vormals Friedrich Bayer & Co. seinen Dienst an. Dem gerade 29-Jährigen eilt da schon ein gewisser Erfinder-Ruf voraus. So sehr, dass Bayer-Direktor Carl Duisberg alles daran setzt, ihn in das Unternehmen zu holen, das damals auf dem pharmazeutischen Gebiet noch nicht viel zu bieten hatte.
Eichengrün hatte nämlich in seiner kurzen Zeit bei Marquart im Industriestädtchen Beuel ein Wunddesinfektionsmittel erfunden, das genauso gut war wie das schon bekannte Iodoform, aber gegenüber diesem bestialisch stinkenden Mittel einen entscheidenden Vorteil hatte: Es war völlig geruchslos.
Bei Bayer entwickelt Eichengrün als erstes erfolgreich ein Mittel gegen die damals weit verbreitete Geschlechtskrankheit Gonorrhö, besser als Tripper bekannt, das 1898 auf den Markt kam und Eichengrün über Jahrzehnte reichlich Tantiemen bescherte. Und dann nahm sich Eichengrün die Salicylsäure vor, mit bekanntem Ergebnis: 1899, vor 125 Jahren kam das Schmerzmittel Aspirin auf den Markt, Eichengrün ist, daran lässt Chaussy keinen Zweifel, einer seiner zwei Erfinder. Die Bayer AG mag das immer noch nicht wahrhaben.
Chaussy schildert das alles nicht linear, sondern nimmt den Leser mit auf seine Recherchereise, auf seiner Suche nach Dokumenten über und von Eichengrün selbst. Er lässt ihn teilhaben an den Irrungen und Wirrungen einer solchen Recherche, den Enttäuschungen und den Überraschungsfunden. Angefangen im Jahr 1987, als er während einer Recherche für den WDR auf Hitlers Alpenresidenz Obersalzberg bei Berchtesgaden fährt und dort erstmals den Namen Eichengrün vernimmt. Die Familie hatte dort jahrzehntelang eine Ferienresidenz – und war, als Hitler ebenfalls Gefallen am Obersalzberg fand, ein paar Jahre lang direkter Nachbar des Chefs der NSDAP.
Die Nazis lassen Eichengrün nicht ausreisen
Von Eichengrün gibt es zwar viele, auch gedruckte Fachvorträge, aber schriftliche Äußerungen über sein Leben selbst, über sein Schicksal als deutscher Jude sind rar. Einmal glaubt sich Chaussy fast am Ziel, eine Enkelin erzählt ihm von Schallfolien, auf denen sie als Kind die Stimme ihres Opas gehört hatte. Tatsächlich hatte Eichengrün selbst 1938 die Schallfolien aus dem von ihm erfundenen Kunststoff Cellon entwickelt, besprochen und nach London geschickt zu einem seiner Kinder, um seine Einreise ins Vereinigte Königreich zu befördern. Doch da ließen ihn die Nazis nicht mehr ziehen. Sein Ruf als überaus erfolgreicher Erfinder wandte sich jetzt gegen ihn. Eichengrün war den Nazis vermutlich schlicht zu wichtig, als dass sie ihn ausreisen lassen wollten.
Doch die Schallfolien sind verloren. Chaussy greift, um Eichengrün dennoch für die Leserinnen und Leser lebendig werden zu lassen, zu einem Kunstgriff. Er lässt den Porträtierten mit erdachten Einwürfen zu dem, was er selbst, Chaussy, gerade über ihn, Eichengrün, geschrieben hat, zu Wort kommen. Das lockert die Lebenserzählung nicht nur zusätzlich auf, es wirkt auch dem Denken in starren Kategorien, in das wir alle allzu leicht verfallen, entgegen.
Der Erfinder passte in keine Schublade
Chaussy schafft es, das Leben des Bayer-Chemikers, Unternehmers und Erfinders in seinem zielstrebigen und ehrgeizigen Suchen nach neuen Produkten und nach immer neuen Anwendungen für diese packend darzustellen. Er lässt auch das komplexe familiäre Netzwerk, in dem der drei Mal verheiratete Mann mit sechs Kindern lebte, lebendig werden, insbesondere auch die familiär glücklichen Jahre bei Berchtesgaden. Denn Eichengrün passte in keine Schublade. Nicht als Jude: Er trat in Aachen der schlagenden Studentenverbindung Montania bei und heiratete eine amerikanische Protestantin als erste Frau.
Nicht als Erfinder: Bald nach Entwicklung so erfolgreicher Medikamente wie Aspirin und Protargol wandte sich Eichengrün von der Pharmazie ab und den Kunststoffen zu. Die sich gerade entwickelte Film- und Fotoindustrie der Zeit arbeitete mit Filmen aus Celluloid. Deren Nachteil: Sie waren extrem leicht brennbar, immer wieder kam es in Kinosälen zu Brandkatastrophen mit vielen Toten. Eichengrün entwickelte für Bayer, wieder gemeinsam mit Kollegen, ein unbrennbares Filmmaterial: Cellit.
Zwölf Jahre lang arbeitete Eichengrün bei Bayer. Doch als das Unternehmen ihm 1908 eine Vertragsverlängerung mit Knebelklauseln vorschlug, machte sich der erfolgreiche Doktor der Chemie von dannen. Er siedelte nach Berlin über und verließ das Rheinland für immer. Die Nazizeit überlebten Eichengrün und seine dritte Frau mit knapper Not. Seine alten Kollegen und Freunde bei Bayer und anderswo hatten ihn zumeist vergessen. Zu seinem 70. Geburtstag 1937 schrieb er mit resignativem Ton: „Keine Fachzeitschrift und kein Kollege in officieller Stellung hat Notiz genommen!! Für die bin ich erledigt.“ Eichengrün wurde während des Krieges mehrere Monate willkürlich inhaftiert, die Nazis verschleppten ihn im Mai 1944 schließlich ins KZ Theresienstadt.
Am Ende seines Lebens versuchte er bei Bayer, die Anerkennung seiner Urheberschaft für Aspirin zu erreichen. Ohne Erfolg. Wenige Tage vor seinem Tod publiziert die Zeitschrift Die Pharmazie 1949 einen Artikel über 50 Jahre Aspirin, den Eichengrün bereits im KZ Theresienstadt geschrieben hatte. Kurz vor Weihnachten 1949 stirbt er 82-jährig.
Ulrich Chaussy, Arthur Eichengrün – Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst, Herder, 368 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, umfangreichem Fußnotenapparat und einem Stammbaum, der die Orientierung in der vielköpfigen Familie Eichengrün erleichtert, 26,80 Euro