Nach Currenta-HavarieAufgebrachte Leverkusener bei Veröffentlichung des Gutachtens
Leverkusen – Erst entzündet Currenta nach elf Monaten Stillstand vor über einer Woche das Feuer im Müllofen, erst dann können die Bürger darüber debattieren. Die meisten der Betroffenen, die am Donnerstagabend in der Bürgerhalle zusammengekommenen waren, hätten es gerne andersherum gehabt, hätten darüber gesprochen, bevor Currenta und die Behörden unter dem Druck der anwachsenden Müllmenge Fakten schaffen.
Der Begleitkreis zum Wiederanfahren des Müllofens hatte eingeladen, um über die Inbetriebnahme zu reden. Knapp 70 Bürgerinnen und Bürger hatten die Einladung angenommen. Die zentrale Person war Gutachter und Sicherheits-Experte Christian Jochum, der in Wiesdorf vor Publikum seine Ausarbeitung erklärte. Er kam beim Vortrag ins Schwitzen: Es war heiß am Donnerstagabend, aber auch in der Diskussion ging es knallhart zur Sache. Jochum und die anwesenden Currenta-Vertreter, Chempark-Chef Lars Friedrich und der Geschäftsführer Hans Gennen waren vermutlich auf harte Kritik vorbereitet. Friedrich und Gennen hörten schweigend zu, nur Gennen sprach am Schluss ein paar Worte.
Kein Blatt vor dem Mund
Die Bürger nahmen kein Blatt vor den Mund: Neben technischen und organisatorischen Fehlleistungen vermuteten mehrere Versammlungsteilnehmer den wirtschaftlichen Druck als Problem in der Abfallentsorgung, dem Currenta als Tochter eines Finanzinvestors unterliegt.
In dieses Bild passte, was ein Mann auf der Currenta-Internetseite gelesen hatte. Dort stehe nach wie vor der Satz, mit dem Currenta bei anderen Chemieunternehmen für die Leverkusener Sondermüllverbrennungsanlage werbe. Wörtlich heißt es da: „Weil wir in der Chemie zuhause sind, ist uns kein Stoffgemisch zu extrem.“ Ein Schlag ins Gesicht auch der Angehörigen der sieben beim Unglück verstorbenen Menschen, fand der entrüstete Mann. Viele der gut 70 Versammlungsteilnehmer applaudierten.
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Zwangsläufig müsse es zu Problemen kommen, wenn Sondermüll als normale Ware gehandelt werde und dem freien Markt überlassen bleibe, wurde kritisiert. Der in Leverkusen explodierte Stoff kam aus Dänemark. Der verharmlosend als „Mülltourismus“ bezeichnete Handel mit gefährlichen Stoffen sei momentan kaum zu verhindern, hieß es in der Veranstaltung. In der Europäischen Union gebe es die Freiheit des Warenverkehrs. Allerdings machten anwesende Behördenvertreter vage Andeutungen, dass die Leverkusener Havarie womöglich neue Gesetze zur Folge haben könnte. Der Unfall werde auch in Europäischen Gremien zur Sprache kommen, sagte einer der Fachleute.
Unterschiedliche Bewertungen
Was mehr als deutlich wird: Gutachter und Bürger bewerteten die Kommunikation nach dem Unglück höchst unterschiedlich. Während Jochum erklärt, dass die Information von Currenta auch wegen der eigens geschalteten Havarie-Webseite besser gewesen sei als er es bei anderen Chemieunternehmen erlebt habe, fühlten sich Bürger stark uninformiert. Alte Leute könne man so gar nicht erreichen und in den Vierteln vor Ort sei kein Unternehmensvertreter aufgetaucht, sagte der Bürriger Peter Odenthal.
Transparenz forderte Detlef Stoller: Er drang darauf, dass die 31 Stoffe genannt werden sollen, die ab jetzt in der Anlage verbrannt werden dürfen. Christian Jochum stellte klar, das sei nicht seine Aufgabe: „Für uns Gutachter war nur wichtig, dass da nichts explodieren kann.“ Neutral gab er sich in der Frage, ob man die veröffentlichen soll. Das sei Sache des Unternehmens: „Und wir Gutachter sind nicht die Kommunikationsabteilung von Currenta.“
Mit „Weißwaschung“ betitelt
Die schwerwiegendsten Vorwürfe kamen zu Beginn: Der Ex-Bayer-Chemiker Rainer Welte outete sich als Explosions-Kenner und nannte die Veranstaltung eine Weißwaschung, forderte die sofortige Stilllegung der Anlage, weil die Explosionsursache nach wie vor nicht exakt offen gelegt worden sei. Das sei aber Voraussetzung für die Wiederinbetriebnahme. Im Übrigen machte Welte klar: Die Stoffmenge mache die Explosion.
Im Verlauf der der Diskussion nannten die Fachleute neue Details zum Unfallgeschehen: Die Flüssigkeit soll sich demnach in der Nacht über Stunden langsam erwärmt haben, ohne dass die Mitarbeiter an eine Selbsterwärmung geglaubt haben sollen. Bei 60 Grad Celsius um 9.37 Uhr sei der Tank geborsten und in die Luft geflogen, das sei eine physikalische Explosion gewesen.
Gottfried Schweitzer, ein traditionell harter Bayer-Kritiker urteilte, die Öffentlichkeitsarbeit käme scheibchenweise. Ihn störe Currentas Umgang mit Menschenleben, er sagte gar, dass der Chempark-Chef Lars Friedrich ins Gefängnis gehöre, er solle nicht nur die Gewinne verantworten, sondern auch die Fehler. Schweitzer behauptete, dass bulgarische Arbeiter an den Aufräumarbeiten beteiligt gewesen seien. Im Gegensatz zu eigenen Mitarbeitern ohne ordentliche Schutzausrüstung: „nur mit Corona-Masken“. Unabhängig überprüfen lässt sich das bisher nicht. Ein Currenta-Sprecher beantwortet eine Anfrage nicht, ob es diese Gruppe gegeben hat, schreibt, dass vor Ort für alle dieselben Sicherheitsbestimmungen gelten würden.
Christian Jochum, der auf entsprechende Vorwürfe wiederholt seine hundertprozentige Unabhängigkeit von Currenta betonte, sagte: Dieses Bild können wir nicht bestätigen.