Flucht nach LeverkusenAls in Kiew Schüsse fielen, stiegen sie ins Auto
Leverkusen – Als in der Siedlung nebenan Schüsse fielen, haben sie gepackt. Das Nötigste, manches war noch nicht mal gewaschen. In Kiew haben Denis Rovenchuk und seine Frau Ljubov, die Söhne Wladislaw, Denis, Timofei und die kleine Eliana alles zurückgelassen. Nicht mal ein Spielzeug konnte mit in den Citroën, der jetzt hinterm Haus in der Jacob-Fröhlen-Straße steht. Dort wohnt Michael Engelmann mit seiner Familie. Und macht Platz.
Denis kennt er von früher, als der eine Zeit lang in Deutschland gearbeitet hat. Beide verbindet, dass sie in der Freikirchlichen Gemeinde sind. Als es zu gefährlich wurde für die Rovenchuks in Kiew und sie an Flucht dachten, wählte Denis die Nummer seines alten Bekannten. Natürlich konnte er kommen. Für den Sozialtherapeuten Engelmann ist das eine Selbstverständlichkeit – Helfen ist sein Beruf. Sonst sind es Drogenabhängige, denen der Mann mit ukrainischen Wurzeln seine Kraft widmet. Dass so jemand oft von Nächstenliebe sprich, ist nur natürlich: „Jeder wie er kann.“
Flüchtlingsdrehscheibe Gemeindehaus
Gerade hat Engelmann einer zwölfköpfigen Familie aus Lwiw zu einer Wohnung in Bergisch Gladbach verholfen. In der ersten Not hatten die Flüchtlinge im Manforter Gemeindehaus übernachten können. Das Haus an der Poststraße wird auch in Zukunft Drehscheibe für Leute sein, die sich vor den russischen Angriffen in Sicherheit bringen müssen.
Dass Denis Rovenchuk mit seinen 41 Jahren überhaupt die Ukraine verlassen durfte, erklärt er so: Familienväter mit drei oder mehr Kindern dürfen weg. Er sei „nur wegen der Kinder“ aus Kiew weggegangen und nicht mit leichtem Herzen, lässt er übersetzen. „Wir fühlen uns ein bisschen wie Verräter.“ Dass die ukrainische Regierung Ausnahmen macht für Männer, die für eine größere Familie Verantwortung tragen, ist einer der vielen Unterschiede zu Russland. Wenn er daran denkt, dass Putin eines Tages das Sagen haben könnte in der Ukraine, wird ihm ganz anders. Die Menschen in seinem Land hätten sich gerade „aufgerappelt, demokratisch zu leben“. Vieles sei schon passiert und vieles möglich, „wenn man unseren Leuten die Freiheit gibt“, davon ist Denis überzeugt.
Die Zukunft ist völlig offen
Wie es nun weitergeht, wie weit Putin gehen könnte, was der Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja bedeutet – vor diesen Fragen stehen Denis und seine fünf Jahre jüngere Frau Ljubov genauso ratlos wie die Menschen in Deutschland. Deshalb kann die Familie auch nicht sagen, wie es für sie in den nächsten Monaten weitergeht. Bleiben sie, gehen sie zurück? Und wenn, was wird das für ein Land sein? „Wir müssen wahrscheinlich alles neu aufbauen“, sagt Denis. Was für ihn im Wortsinn gilt: Er arbeitet auf dem Bau, musste aber alle Werkzeuge in Kiew lassen. Wie es war an seinem vorerst letzten Tag in der Heimat, das hat sich ihm eingebrannt: „Ich gehe raus, will zur Arbeit und die Menschen laufen.“ Aus Angst vor den Schüssen, den Bomben der Russen.
Angespannt sei die Lage seit 2014 gewesen, gibt er Einblick in die Gefühlslage ganz normaler Ukrainer. Seit die Russen die Krim besetzt hatten und viele Bewohner dort weg gegangen waren, habe man „schon ein Gefühl von Bedrohung gehabt“. Aber dass Putin das ganze Land eines Tages angreifen würde, „haben wir bis zum Ende nicht glauben können“.
Gratis Tanken in Polen
Als es dann doch geschah und die Rovenchuks sich Hals über Kopf auf den Weg machten, da ahnten sie nur dunkel, wie ihre Flucht in den Westen ablaufen würde. Zunächst ging es nach Lwiw; „die Straßen waren voll, vor jeder Stadt standen Posten, um Papiere zu kontrollieren“. Nur Busse mit Flüchtlingen an Bord seien schneller voran gekommen. Dass sie drei, vier Tage brauchen würden, hatten die Rovenchuks eingeplant: Wegen der Kinder mussten sie öfter Station machen, an der Grenze zu Polen standen sie einen Tag.
Zum Glück waren alle enorm hilfsbereit. „Wir konnten essen, sogar Wäsche waschen“, sagt Ljubov Rovenchuk. Sehr wichtig: In Polen konnten sie ihren Wagen tanken und mussten nichts dafür bezahlen. Auch die Autobahngebühren würden den Ukrainern erlassen. Für die Familie war das ein großes Glück: Denn in der Ukraine konnte man nur noch maximal 3000 Griwna am Automaten ziehen. Das sind um die 100 Euro. Eigentlich reicht das nicht für eine Flucht.
Fast alle Nachbarn hätten Kiew inzwischen auch verlassen. Wer sich nicht in den Westen aufmache, gehe zu Bekannten aufs Land. Die Hauptstadt ist zu gefährlich geworden wegen der dauernden russischen Angriffe. Dass man solche Überlegungen anstellt im Jahr 2022 – Rovenchuks können es nicht fassen. Fast alle Verwandten sind schon länger im Ausland, nur in Odessa haben sie noch Leute. Kontakt halten kann man. Was sie hören, klingt bedrohlich: Wer da bleibt, „ist kurz in der Wohnung und dann wieder im Keller“, so Denis.
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Ob Europa mehr tun könnte, um seinem Land beizustehen? Rovenchuk weicht ein bisschen aus: „Wir hoffen, dass die Europäer uns nicht im Stich lassen. Und sind dankbar, dass das deutsche Volk den Hilferuf gehört hat.“ Im Leverkusener Rathaus sind auch einige eingegangen. 103 Flüchtlinge waren am Montag registriert, 34 habe man übergangsweise eine Bleibe verschafft, „die anderen sind privat untergekommen“, sagt Ariane Czerwon, Sprecherin in der Stadtverwaltung.
In dem Vierfamilienhaus in Quettingen beschreibt Denis Rovenchuk es so: „Die Not hat viele zusammengebracht.“ Und Michael Engelmann nickt.