Mit virtueller Realität sollen junge Leute erleben, wie der Holocaust sich anfühlt. Berufsschüler machten den Test.
„Inside Pogromnacht“Der Judenhass interaktiv in Leverkusen
„Man ist mittendrin.“ Simon Schneider nimmt die VR-Brille ab. Gerade hat er 20 Minuten mit einem jüdischen Mädchen verbracht. Es heißt Charlotte Neuland, ist neun Jahre alt und entgeht nur deshalb der Deportation nach Theresienstadt, weil es von der Haushälterin ihrer Eltern als uneheliches Kind ausgegeben und auf einem Bauernhof im fränkischen Arberg untergebracht wird. In dem Dorf muss sich die kleine Charlotte drei Jahre lang verstellen. Sie besucht christliche Messen und darf sich auf keinen Fall verplappern. Das wäre lebensgefährlich, denn Charlotte Neuland ist Jüdin.
Bekannt wird sie später: Charlotte Knobloch widmet sich seit vier Jahrzehnten dem jüdischen Leben in Deutschland. Und hätte die gerade 92 Jahre alt gewordene Frau am Dienstag keinen Termin in ihrer Heimatstadt München gehabt – die vormalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses wäre gerne nach Leverkusen gekommen.
Premiere in Leverkusen
Denn am Geschwister-Scholl-Berufskolleg wäre sie Zeugin einer Premiere geworden, in der Charlotte Knobloch eine tragende Rolle spielt: Sie steht im Mittelpunkt gespielter Szenen, die ihr Schicksal in die Pogromstimmung in Deutschland der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre einbetten.
Menschen, die den Holocaust überlebt haben, sind mittlerweile sehr, sehr alt. Deshalb ist es wichtig, ihr Zeugnis zu konservieren. Und: Es jungen Leuten auf eine Weise nahe zu bringen, an die sie gewöhnt sind. „Ihr nutzt Quellen im Internet, Ihr informiert Euch anders“, stellt Rüdiger Mahlo im Glaspalast hoch oben im Berufskolleg an der Bismarckstraße fest. Der Repräsentant der Claims Conference in Europa ist zufrieden, dass „Inside Pogromnacht“ nun am Start ist und von der Landesregierung sehr wichtig genommen wird, vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft wie auch von der Staatskanzlei, wie sich an der Gästeliste zeigt.
Das Projekt funktioniert auf der Grundlage von virtueller Realität. Die Unesco macht mit, die Shoah-Stiftung, die Agentur „make me pulse“, der Facebook-Konzern Meta. Letzteren hätte es am Geschwister-Scholl-Kolleg gar nicht gebraucht: Die Metaquest-VR-Brillen „hatten wir schon“, berichtet Till Piontek am Rande. Der Stellvertreter von Schulleiterin Margot Ohlms erzählt von einem Partnerprojekt mit einer portugiesischen Schule. In dessen Rahmen sei die Berufsschule an die VR-Brillen gekommen.
Dass die Hardware vorhanden war, dürfte Daniel Kuklinski sehr geholfen haben. Der Politiklehrer hatte die Idee, sich um das aufregende Aufklärungsprojekt zu bemühen. Und sehr kurzfristig habe das geklappt. So schnell ging es, dass für eine Vorbereitung des Themas im Unterricht keine Zeit blieb. Und so ist es der Deutschkurs, der am Dienstagvormittag mit dem schwierigen Thema konfrontiert wird. „Wie weit es Vorwissen gibt, wissen wir nicht“, sagt Deutschlehrerin Mara Lessing.
Umso wichtiger ist das Feedback. An drei Tafeln wird nicht nur gerade aufgenommenes Wissen abgefragt. An der ersten steht: „Wie haben Sie sich während des VR-Erlebnisses gefühlt?“ Darunter findet man Empathie, Mitgefühl, Trauer, aber auch Schock. Simon Schneider hat gemischte Gefühle: „Es war spannend und bedrückend.“