Drei betroffene Leverkusener Jugendliche und ihre Lehrerinnen erzählen, wie die Erdeben in der Türkei und in Syrien den Alltag an ihrer Schule verändert haben.
Leverkusen„Bekannte unter Trümmern begraben“ – Schüler und Lehrer von Erdbeben betroffen
Wenn Zümra Ibili erzählt, was ihre Familie zurzeit durchmacht, stockt einem der Atem. Sie ist Schülerin an der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Rheindorf, trägt Sneaker und Sweatshirt, redet gefasst, wirkt wie eine normale Leverkusener Jugendliche. Aber die Sorgen der 14-Jährigen drehen sich um Tod und Elend. Sie hat Verwandte in Nigde in Südosten der Türkei, wo seit Montag, dem 6. Februar, die Serie an Erdbeben Häuser, Städte, Existenzen zerstört.
Zümra erinnert sich an den ersten Morgen danach. Wie es ihren Verwandten geht, ist an diesem Tag noch ungewiss. „Man kann sie nicht erreichen, es gibt dort keinen Strom, kein Netz“, erzählt Zümra von jenem Dienstag. Irgendwann kamen die Anrufe aus Leverkusen in Nigde an. Auf die Ungewissheit folgte Trauer. „Als wir erfahren haben, dass Verwandte gestorben sind, war das schlimm“, sagt Zümra. Aber sie bleibt nicht lange an dem Schmerz hängen, sie fügt entschlossen an: „Man muss da jetzt durch.“
Leverkusener Familien von Erdbeben in der Türkei und in Syrien betroffen
Seit drei Wochen kommt die Erde in der Region und damit Zümras Familie nicht zur Ruhe, die Teenagerin aber geht jeden Tag weiter zur Schule. In den Pausen guckt sie ständig auf ihr Handy, wartet auf Neuigkeiten. „Die Gedanken sind bei der Familie“, sagt die Schülerin. Wenn sie nach Hause kommt, ist ihre erste Frage: „Ist wieder ein Erdbeben passiert?“
Zu oft lautet die Antwort ja, die Nachbeben haben noch nicht aufgehört. Allein während ihres Gesprächs am Freitag mit dem „Leverkusener Anzeiger“ bebt es in der Region Nigde erneut, Magnitude 4. Einen Tag später mit der Stufe 5,2.
Zümra Ibili ist vielleicht deshalb so besonnen, weil sie mit ihren Sorgen nicht alleine ist an der Leverkusener Schule. An ihrer Seite sitzt Sevda Ceylan. Ihre Familie stammt aus der kleinen Stadt Pazarcık in der Provinz Kahramanmaraş, eine der am stärksten betroffenen Regionen der Türkei – und auch ihre Verwandten haben ihr Zuhause verloren. „Die haben nichts mehr, wo sie wohnen können, was sie essen können“, sagt Sevda und stockt, „die haben tagelang im Auto geschlafen.“ Als sie Dienstagmorgen die Nachrichten auf ihrem Handy gelesen habe, sei das ein Schock gewesen. Ist sie in der Schule, will die 15-Jährige eigentlich nur nach Hause.
Vor einer Woche ploppte die Tsunami-Warnung für die türkische Mittelmeerregion im Erdbebengebiet auf Sevdas Handy auf. Sie erzählt von ihren Gedanken von dem Tag: „Jetzt müssen wir uns wieder Gedanken machen: Werden wir noch mehr Verwandte verlieren?“ Es sei eben „eine Sorge Plus“, kommentiert sie heute nüchtern.
Ihr Cousin und Mitschüler Eren erzählt, wie die Familie Ceylan noch immer bangt: „Jede Stunde erfährst du, dass Bekannte unter Trümmern begraben, verstorben, verletzt sind.“ Der 15-Jährige sagt: „Die engsten Verwandten und Freunde, die überlebt haben, habe ich zwar erreicht, aber der Schmerz, dass die ganze Stadt zerstört ist, bleibt.“
Kuchenverkauf an der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule: Erlös wird gespendet
Die drei Neuntklässler haben am Dienstagmorgen nach dem Beben diesen Schmerz in Aktivität umgewandelt und innerhalb eines Tages einen Kuchenverkauf an ihrer Schule initiiert. Schon Mittwoch ging es los. Den Erlös spenden sie an Hilfsorganisationen für die Erdbebenopfer.
Cornelia Bernhardt unterstützt die drei Schüler bei der Organisation. „Wir sind alle wie erschlagen“, sagt die Lehrerin und Betreuerin der Schülervertretung. In einem Chat organisieren sich die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrkräften. „Die Grenzen zwischen uns sind verschwommen“, sagt Bernhardt.
Die Resonanz sei beeindruckend, auch Familien, die nicht viel Geld hätten, beteiligten sich. „So viel Kuchen bekommen wir gar nicht gegessen, wie gebacken wurde“, sagt sie und erzählt, dass eine Mutter über Nacht Sarma, gefüllte Weinblätter, für die ganze Schule gerollt hätte.
„Man sieht sehr viel Leid“, sagt sie, auch wenn sie keine Verwandte in der Region hat. Sie bietet dafür allen ihr Ohr an, manchmal müssten auch die Lehrkräfte mal mit jemanden reden. Bernhardt kann noch auf andere Weise helfen. Sie ist Erdkundelehrerin und hat den Lehrplan für ihre Klassen geändert und redet nun mit ihnen über Erdbeben und wieso das Ausmaß in der Türkei und in Syrien so groß ist. „Manche wollen berichten, haben Fragen, andere wollen gar nicht darüber reden“, sagt die Lehrerin. An der Gesamtschule wird versucht, auf all diese Reaktionen der Schülerinnen und Schüler einzugehen.
Lehrerin Maria Mahmoud ist einer jener Kolleginnen, die selbst Familie in der betroffenen Region hat, ein Teil ihrer Verwandtschaft kommt aus dem syrischen Homs. Sie hat sich dem Kuchenverkauf direkt angeschlossen. „Ich bin unglaublich froh, dass Kinder mit der Idee ankamen“, sagt sie, „wir sind alle eigentlich überarbeitet und ich als betroffene Lehrkraft musste nicht selbst etwas organisieren“.
Die Erdbeben sind an der Käthe-Kollwitz-Schule ein omnipräsentes Thema. Viele Menschen mit Migrationsgeschichte aus diesem Gebiet lernen und lehren hier. Das verändert auch den Unterricht in diesen Tagen. „Ich versuche, dem Raum zugeben, das emotional ein bisschen aufzufangen“, sagt Maria Mahmoud. Wie die Kinder sagt sie ab und zu Sätze, bei denen es einem kalt den Rücken herunterläuft. „Die Mehrheit hat überlebt“, stellt sie fest. Und fügt an: „Aber, den psychischen Nachhall finde ich sehr schwierig zu ertragen, wenn man mit den Menschen redet, die dort leben.“