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„Martina Luther des Islam“Seyran Ateş besucht Leverkusen mit einem Jahr Verspätung

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Seyran Ateş hielt in der Christuskirche eine Rede im Reformationsgottesdienst.

Seyran Ateş hielt in der Christuskirche eine Rede im Reformationsgottesdienst.

Der Besuch von Seyran Ateş im vergangenen Jahr war aus Sicherheitsgründen abgesagt worden.

Es ist schon bemerkenswert, welche Zuversicht sich Seyran Ateş bewahrt. Seit 18 Jahren steht die Autorin, ehemalige Anwältin, Menschenrechtsaktivistin und Mitbegründerin der liberalen Ibn-Rushd -Goethe-Moschee in Berlin unter Polizeischutz wegen ihrer liberalen Auslebung des Islams. Ihre Moschee musste sie wegen Drohungen zwei Monate schließen. „Aber mein Optimismus nährt sich durch die vielen tollen Menschen, die ich kenne. Ich kenne so viele Beispiele, die uns Hoffnung machen können.“

Am Donnerstag war Seyran Ateş nach Leverkusen gekommen, um im Reformationsgottesdienst in der Christuskirche eine Kanzelrede zu halten. Der Gottesdienst, bei dem Uwe Steinmetz (Saxophon/Berlin) und Hans-André Stamm (Orgel/Leverkusen) spielten, war der Abschluss der Spiritual Jazz Days in der Christuskirche.

Leverkusen: Besuch 2023 abgesagt

Bereits im vergangenen Jahr sollte sie auf Einladung von Pfarrer Siegfried Eckert anreisen. Als aber konkrete Anschlagspläne des IS gegen sie und ihre Moscheegemeinde bekannt wurden, sagte sie den Besuch aus Sicherheitsgründen ab.

Kennengelernt hatten sich Eckert und Ateş am 31. Oktober 2017 auf einer Reformationsgala zu 500 Jahren Reformation. Seit dem hat sich eine Freundschaft entwickelt, wie beide sagen. „Für mich war sie schon immer die Martina Luther des Islam“, bemüht Siegfried Eckert eine interreligiöse Analogie zwischen Martin Luther und Seyran Ateş. Sie setzt sich für Gleichberechtigung, für die LGBTQ-Gemeinschaft, für religiösen Austausch ein.

In ihrer Moschee dürfen Männer und Frauen gemeinsam beten, Frauen predigen, auch Personen aus der LGBTQ-Gemeinschaft sind willkommen. 2022 wehte weltweit das erste Mal vor einer Moschee die Regenbogenfahne. Aber dieses Engagement hat seinen Preis. Polizeischutz, Drohungen. Die Regenbogenfahne ist inzwischen nur noch innerhalb der Moschee zu sehen. Die ist ebenfalls von Sicherheitskräften geschützt. Betreten kann man sie nur noch mit Anmeldung.

Ich war psychisch nicht mehr in der Lage.
Seyran Ateş

Als der IS im vergangenen Jahr Anschläge auf sie und ihre Gemeinde verüben wollte, schloss sie die Moschee. „Ich war psychisch nicht mehr in der Lage“, sagt sie heute. Sechs Jahre lang hatte sie die Moschee offen gehalten. Mit vielen, die ihren Ansatz nicht teilen, diskutiert, auch mal aggressive Leute abgewiesen. Einmal habe sich ein Anhänger der Gülen-Bewegung in ihre Moschee verirrt. Aber zu Gewalt sei es nie gekommen. Die Anschlagspläne Ende 2023, die unter anderem durch Whatsappchats gewandert waren, änderten aber zunächst einmal alles. Und dabei ging es nicht nur um sie, sondern auch um alle Menschen im Kontext der Moschee. „Ich sagte damals: Nichts ist wichtiger als euer Leben.“

Dann war die Moschee zwei Monate zu. „Aber wir haben so viel Zuspruch bekommen“, sagt sie über diese kurze Zeit. Den Menschen sei die Moschee wichtig gewesen. Deshalb ist sie wieder offen, unter verschärften Sicherheitsbedingungen. Mit Taschenkontrolle, Alarmanlage, Videoüberwachung. Und es soll wohl noch mehr werden. Ein hoher Preis eben.

„Ich habe eine gesunde Angst“, sagt sie im Gespräch mit dem „Leverkusener Anzeiger“ in der Christuskirche. Auch der Autor dieser Zeilen wurde von Sicherheitskräften zu Ateş geführt, sie nennt sie liebevoll ihre „Engel“. „Ich weiß, dass das ein Luxus ist, so geschützt zu werden.“ Wütend, wie sie es viele Jahre gewesen sei, sei sie nicht mehr. Sie wolle sich nicht mehr treiben lassen von einer Angst, die lähme. Sie verspüre dieses große Gottvertrauen, das sie weitermachen lasse. Das sie zum Stehaufmännchen habe werden lassen. „Aber ich kenne auch den Schmerz, keine Kraft mehr zu haben. Aufhören zu müssen.“

Tausende besuchen ihre Moschee in Berlin

2000 bis 3000 Schülerinnen und Schüler empfange sie im Jahr in ihrer Moschee, zu deren Gemeinde mehrere hundert Menschen gehören. Es kommen Schulklassen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Theologen, Philosophen, Menschen aus aller Welt. „Die Welt kommt zu uns“, sage einer ihrer Mitstreiter immer. Regelmäßig kämen natürlich auch Menschen, die nichts mit der Ausrichtung der Moschee anfangen können. Lange blieben diese aber meist nicht.

Seyran Ateş war vor mehr als 40 Jahren als Gastarbeiterkind nach Deutschland gekommen. Sie war Anwältin, überlebte einen Anschlag von Mitgliedern der „Grauen Wölfe“, als sie mit Anfang 20 in einer Frauenberatungsstelle für eine Frau, die dabei starb, übersetzte. Sie schrieb zahlreiche Bücher und ist Mitbegründerin der Schriftstellervereinigung „Pen Berlin“ in ihrer Heimatstadt.

Die Positionen, die Ateş vertritt, lösen aber nicht nur in streng muslimischen Kreisen Kritik aus. 2007 veröffentlichte sie das Buch „Der Multikultiirrtum – Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“. Sie sagt auch, zunehmende Radikalisierung sei kein Phänomen dieser Tage. „Das gibt es schon seit Jahrzehnten. Jetzt trauen sich die Leute nur, das öffentlich zu zeigen und zu sagen“, sagt sie. Durch das Aussprechen solcher Ansichten müsse sie sich auch den Vorwurf der Islamophobie gefallen lassen oder dass sie dadurch Narrative der AfD bediene. Aber das weist Ateş von sich: „Es ist doch so, dass Muslime selbst die größten Opfer von islamistischer Gewalt sind.“