AboAbonnieren

OB im Interview„In Leverkusen leben Menschen aus 140 Nationen. Das ist Europa.“

Lesezeit 7 Minuten
Leverkusens Oberbürgermeister Uwe Richrath verteidigt die europäische Gemeinschaft. (Archivfoto)

Leverkusens Oberbürgermeister Uwe Richrath verteidigt die europäische Gemeinschaft. (Archivfoto)

Europa steht vor einer richtungsweisenden Wahl. Wir haben darüber mit Leverkusens Oberbürgermeister Uwe Richrath gesprochen.

Herr Richrath, haben Sie schon gewählt?

Uwe Richrath: Nein, ich habe noch nicht gewählt. Ich werde auf jeden Fall am Sonntag ins Wahllokal gehen und vor Ort wählen. Für mich ist die Wahl in einem Wahllokal etwas Besonderes. Wie das Privileg, in einer freien Gesellschaft zu leben.

Bei der Europawahl ist die Wahlbeteiligung meist niedriger als bei anderen Wahlen. Was entgegnen Sie Menschen, die sagen, Europa habe mit dem Leben vor Ort nichts zu tun?

Alles zum Thema Uwe Richrath

Wenn wir in die Geschichte schauen, ist Europa ein Garant dafür, dass wir friedvoll zusammenleben. Wir haben einen Kontinent, der sich demokratisch orientiert. Deshalb ist die Europawahl nicht nur eine Wahl des Wohlstands, sondern auch der Freiheit. Demokratie bekommt man nicht umsonst. Man muss sie mit jeder Stimme verfestigen. Letztlich entscheidet die kommende Wahl über ein freiheitliches, liberales und solidarisches Europa.

Das demokratische Europa scheint derzeit von vielen Seiten angegriffen zu werden, auch von innen. Wie kriegt man demokratische Werte und Menschen wie Viktor Orbán zusammen?

Wir müssen uns immer die europäischen Werte vergegenwärtigen: Sie verkörpern einen starken Verbund und sie bedeuten zugleich Schutz für die Mitgliedsstaaten. Gleichzeitig bedeutet Europa Wohlstand. Es ist ja nicht so, dass ganz Ungarn hinter Viktor Orbán steht. Viele Menschen dort tragen den europäischen Gedanken mit. Unsere Aufgabe ist es, diese Menschen nicht zurückzulassen. Vielmehr müssen wir sie stärker mitnehmen und für Europa begeistern. Ich bin überzeugt, dass wir mit der richtigen Kommunikation auf Augenhöhe immer die Mehrheit, generationenübergreifend, für die Notwendigkeit von sicheren, freien Lebensstruktur gewinnen werden. Dazu gehört auch, Orbán deutlich zu machen, dass ein Abschied Ungarns aus der Europäischen Gemeinschaft gravierende Nachteile für sein Land hat. Der Austausch zwischen den Staaten ist heute wichtiger denn je.

Europas Vorteile in den Mittelpunkt rücken

Auch in Deutschland gibt es Kräfte, die gern aus der EU aussteigen würden. Wieso schafft es die EU nicht, den Menschen zu vermitteln, dass sie wichtig ist?

Scheinbar leben wir zu selbstverständlich mit dem Erreichten. Den Menschen ist es nicht mehr bewusst, dass vieles, was unser Leben ausmacht, auch ein Verdienst einer erfolgreich handelnde Europäischen Union ist. Gerade mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung wissen wir, dass ohne den Staatenverbund der EU alle Nationen einen deutlich schlechteren Stand hätten. Ein Blick nach England zeigt, wohin es führt, wenn ein Land sich heutzutage für einen Austritt entscheidet. Europa heißt Frieden, Sicherheit und Wohlstand.

Aber das scheint ja nicht überall anzukommen …

Daher ist es mehr denn je unsere Aufgabe zu erklären, welche Rolle die EU in unserem Leben spielt. Hier ist die Politik gefragt, wir als Kommune, die Medien, aber auch die Bildungseinrichtungen. Dazu gehört auch zu erläutern, dass wir weltweit wirtschaftlich schwierige Zeiten erleben. Oft wird der Fehler gemacht, dies als ein Problem von Europa zu sehen. Gleichzeitig wird immer wieder vergessen, dass ein Austritt aus der EU auch ein Verlust von Sicherheitsstrukturen bedeutet. Es ist die Einheit, welche die EU prägt. Nur so haben wir die Möglichkeit, Europa gemeinsam zu verteidigen. Ein Punkt, der durch massive Angriffe auf unsere europäischen Werte eine immer höhere Bedeutung gewinnt. Wir werden als Einzelstaat niemals eine Chance haben, uns zu wehren.

Befürchten Sie einen Rechtsruck bei der Wahl?

Ich führe viele Gespräche in der Stadt mit Bürgerinnen und Bürgern. Ich weiß, die breite Mehrheit ist europäisch eingestellt. Diese Basis, die wir über Jahrzehnte geschaffen haben, dürfen wir nicht kleinreden. Zugleich müssen wir schauen, wie wir mit Europakritikern, die Angst um ihren Wohlstand haben oder sich in der Vielfältigkeit nicht mehr zurechtfinden, reden. Dazu ist es zwingend erforderlich über Projekte die Vorteile von Europa spürbar zu machen: in Bildungsstrukturen, durch sichere Arbeitsverhältnisse, Altersabsicherung und Krankenversicherungssysteme. Unsere europäischen Standards sind einmalig auf der Welt. Das dürfen wir nicht vergessen, ebenso wenig, dass diese verloren gehen, wenn wir aus der Europäischen Union ausbrechen.

Wir reden da von einem Volumen von 70 Millionen Euro. Die wären nicht ausgelöst worden, wenn der Impuls durch die europäische Förderung nicht gesetzt worden wäre.
Uwe Richrath, Oberbürgermeister von Leverkusen

Und wie kann Europa sichtbar sein?

Wenn sie auch ein wenig verblasst sind, aber es gibt die großen Europäischen Fonds. Schauen Sie: Bei großen Bauvorhaben ist immer wieder die europäische Fahne zu sehen, ebenso bei den Integrierten Handlungskonzepten, mit denen wir unsere Stadt umbauen. Durch den Verein Region Köln/Bonn e. V. sind wir nach Brüssel vernetzt, er öffnet den Weg, um Förderung nach NRW und nach Leverkusen zu holen.

Wo wäre denn Leverkusen ohne die EU?

Wir hätten kein Jugendhaus, Schulen und Plätze wären teilweise nicht saniert. Der Friedenspark wäre nicht gekommen. Förderkulissen der EU haben die Intention, Räume zu schaffen, in denen wir Menschen zusammen bringen. Auch konsumptiv: also wirklich Gebäude bauen. Auch die Konzernstrukturen in Leverkusen sind international. Einige Chemieunternehmen sind bis zu 70 Prozent international besetzt. Wären hier Ausländer nicht mehr willkommen, hieße das zum Schluss: wichtige Investitionen werden überdacht.

Also ohne EU-Förderung gäbe es viele Projekte nicht?

Schulstrukturen, Sozialstrukturen, Bürgerzentren. Alles, was den integrativen Ansatz betrifft, würde nicht in diesem Maße stattfinden. Ein gutes Beispiel ist hier die „Soziale Stadt Rheindorf“. Doch es sind nicht nur die Förderungen in Höhe von 25 Millionen. Es sind private Investoren, die durch den europäischen Zusammenschluss in Leverkusen aktiv sind. Wir reden da von einem Volumen von 70 Millionen Euro. Die wären nicht ausgelöst worden, wenn der Impuls durch die europäische Förderung nicht gesetzt worden wäre.

OB: Parlamente können sich nur selbst reformieren

Wir haben jetzt viel über die wirtschaftlichen Vorteile gesprochen. Gibt es die viel zitierte europäische Wertegemeinschaft überhaupt?

In Leverkusen leben Menschen aus 140 Nationen. Das ist Europa. Dass wir Menschen hier friedvoll zusammenleben, das ist der europäische Gedanke. Im Wohlstand, mit medizinischer Versorgung, Sicherheitsstruktur und Perspektiven für Kinder.

Die EU steht immer wieder in der Kritik wegen Regulierungswahn und zu viel Bürokratie. Wie geht das besser?

Müssen wir abbauen, klar.

Das sagt jeder.

Wir brauchen vereinfachte Verfahren. Wir leben in der Zeit der Transformation und die Umsetzung muss schneller gehen. Aber das geht nur über die Parlamente. Wir können hier höchstens auf die Abgeordneten einwirken. Das klingt trivial, aber dafür sind Parlamente da.

Das hätte aber doch schon vor Jahren passieren können.

Man kann über demokratische Strukturen immer reden. Ich gebe Ihnen recht, dass sie zu langsam sind. Aber sie können sich nur selber reformieren. Wir alleine haben nicht den nötigen Hebel, um schneller zu werden. Diese Europäische Union funktioniert nur in der Menge mit der Unterschiedlichkeit. Und wer alleine geht, wird auf Strecke verlieren.

Zunehmend tun sich auf der Welt Krisenherde auf. Muss die EU sich auch militärisch anders aufstellen?

Davon bin ich 100-prozentig überzeugt. Europa ist ein friedvoller Kontinent. Aber ich habe durch Putin erkannt, dass man diesen auch verteidigen muss. Wir müssen ein gemeinschaftliches, europäisches Militär aufbauen. Sonst sind wir zu schwach. Das sage ich heute, auch wenn dies bis vor wenigen Jahren nicht meine Welt war. Ich musste lernen, dass Demokratie notfalls auch militärisch verteidigt werden muss.

Haben Sie den Eindruck, dass viele Menschen Europa als zu selbstverständlich nehmen?

England ist das Paradebeispiel. Die Menschen hatten das Gefühl, dass Europa für sie nicht gut ist. Nun spüren sie, dass der Brexit die Lage eher verschlimmert hat. Daraus müssen wir lernen und es besser machen. Europa wurde gegründet, um das Leben der Menschen zu verbessern. Nun haben offensichtlich viele das Gefühl, dass Europa eher schadet. Herauszustellen, dass Europa Lebensqualität, Freiheit und Sicherheit auch in schwierigen Zeiten bedeutete, ist unsere Aufgabe. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Wann haben Sie das letzte Mal die blaue Fahne gesehen und bewusst, positiv wahrgenommen? Genau da müssen wir wieder hin. Die blaue Fahne als Zeichen für unsere Werte. Die Europawahl wird die Probe sein, wieweit wir uns von der europäischen Idee entfernt haben. Dann wissen wir, was wir zurückholen müssen. Denn die Wahl entscheidet für die nächsten Generationen: Schaffen wir es, in einem friedvollen, gemeinwohlorientierten Europa zu leben oder werden wir uns nur noch über Unterschiede definieren. Aber ich bin überzeugt, dass es noch eine große Mehrheit für das Europa gibt, in dem wir gerade leben.