Laut dem Landwirtschaftsministerium des Bundes werden in Deutschland jedes Jahr rund elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle entsorgt.
„Foodsharing“Wie Lebensmittelrettung in Leverkusen ein Mittel zur Lebensrettung wird

Sylwia Beul holt zu rettendes Obst und Gemüse bei dem türkischen Supermarkt „Hepsi“ in Küppersteg ab.
Copyright: Johannes Mönch
Sylwia Beul parkt direkt an der Laderampe des türkischen Supermarktes „Hepsi“ in Küppersteg. Mit ihrem „Foodsharing“-Ausweis in der Hand, meldet sie sich am Eingang zum Lager. Die Abläufe wirken routiniert. „Die gucken sich das im Laden an und was sie nicht mehr verkaufen möchten, packen sie in die Kisten“, sagt sie und weist auf ein silbernes Metallregal, das zur Linken an einer Wand steht. Artischocken, Bohnen, Paprika, Lauchzwiebeln, Limetten, Salatköpfe, Tomaten, Trauben und Zucchini warten hier auf den Abtransport.

Um dieses Gemüse würden Kunden im Laden einen Bogen machen.
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„Alle wissen, dass das nicht giftig oder tödlich ist“, bemerkt die „Foodsaverin“. Sie hält eine Paprika mit eingedrücktem Stiel und eine Zucchini mit leicht beschädigter Schale in den Händen. „Dieses Gemüse ist nicht mehr perfekt, aber zu Hause würden wir Lebensmittel in einem solchen Zustand trotzdem noch verwenden.“ Früher war sie da auch etwas penibel, erinnert sich Beul: „Wir sind es gewöhnt, makellose Ware zu kaufen.“ Mit der Zeit habe sie ihren Lebensstil verändert und sei zu der Erkenntnis gelangt, „das ist krank, was wir hier machen, wie viel wir wegschmeißen.“
Viele abgelaufene Lebensmittel noch lange essbar
Das beziehe sich nicht nur auf Obst und Gemüse mit Druckstellen, sondern beispielsweise auch auf lädierte Verpackungen von Windeln, die Supermärkte nicht mehr verkaufen wollen, sowie auf Lebensmittel mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum, die bekanntermaßen nicht mehr verkauft werden dürfen. „Damit sind sie aber nicht automatisch verdorben“, stellt Beul klar. Je nach Produkt und Lagerung sind die Nahrungsmittel noch Monate lang halt- und verzehrbar, was auch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft auf der eigenen Internetseite mitteilt.

Zu dem vor dem Wegschmeißen bewahrten Obst und Gemüse gesellen sich gerettete Backwaren.
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Nächster Halt ist eine Bäckerei in Wiesdorf, die namentlich nicht genannt werden möchte. Drei große Papiersäcke mit Bureks, Fladenbroten und Sesamkringeln trägt Beul aus dem Laden zum Auto. „Das ist eine ziemlich kleine Abholung“, ordnet sie ein. Trotzdem muss auch die Rückbank als Ladefläche herhalten. „Gleich komme ich nach Hause und dann werde ich das schön sortieren. Das kriege ich in wenigen Minuten weg“, kündigt die 35-Jährige an. Dafür brauche sie nur eine Nachricht in der über 400 Mitglieder fassenden Whatsapp-Gruppe abzusetzen.
Mehr als 500.000 Kilo Essen in Leverkusen gerettet
In der Ortsgruppe „Leverkusen - Leichlingen“ seien aktuell 479 „Foodsaverinnen“ und „Foodsaver“ aktiv, berichtet Beul. Mehr als 500.000 Kilogramm Nahrungsmittel wurden seit dem Bestehen alleine in diesem Bezirk gerettet. Fest mitmachen könne jeder, der online einen Test bestehe und drei Probeabholungen übernehme. „Zuverlässigkeit ist dabei das A und O“, betont Carmen Neumann, die Lebensmittelretterin und Botschafterin der hiesigen „Foodsharing“-Ortsgruppe ist. Dabei gebe es keinen festen Terminplan: „Das Abholsystem ist sehr flexibel. Wenn man Zeit findet, kann man sich für eine Fahrt eintragen“, erklärt Beul.
Mit der Zeit merke man, wer dabei bleibt, ergänzt Neumann. An Nachwuchs mangele es aber nicht. Allein im Januar seien sieben neue „Foodsaver“ beigetreten. Wichtig sei ihr darüber hinaus zu betonen, dass ihre Organisation keine Konkurrenz zu den Tafeln darstelle, sondern sich vielmehr als Ergänzung verstehe, so die gelernte Heilerziehungspflegerin. Gerade an den Wochenenden oder, wenn es mal spontan etwas abzuholen gebe, könne „Foodsharing“ einspringen und dafür sorgen, dass möglichst kein Essen weggeschmissen wird. Für die Betriebe bedeute das keinerlei Mehraufwand.
Leverkusener Foodsaverin: „Man fühlt sich einfach als Mensch gebraucht“
„Die Abholung ist flexibel, es ist nachhaltig, sie müssen nichts vorsortieren und sparen dabei noch Müllkosten“, zählt Neumann die Vorteile auf, die sich aus einer Kooperation ergeben. Mit der Übergabe der Lebensmittel gehe zudem die Haftung auf die Retterinnen und Retter über. Auch für die Ehrenamtlichen habe das Engagement viele weitere positive Aspekte: „Man bildet ein Netzwerk, in dem man sich gegenseitig unterstützt“, führt Beul aus. „Man fühlt sich einfach als Mensch gebraucht.“ So habe es nach der letztjährigen Hochwasserkatastrophe in Polen eine große Sammelaktion für Betroffene gegeben.

Laut „Foodsaverin“ Sylwia Beul war dies nur eine sehr kleine Abholung: Trotzdem ist der Kofferraum ihres Autos gut gefüllt.
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Dass der Einsatz gegen das Wegschmeißen von Nahrungsmitteln nicht nur ein Selbstzweck ist, nehme sie auch an den Reaktionen der Mitmenschen wahr, sagt Beul: „Die sind uns sehr dankbar!“ Für viele sei „Foodsharing“ längst alternativlos, um „zu Essen zu haben“. Das bekräftigt auch Frührentnerin Bianca Cyris, die einen dreiköpfigen Haushalt zu versorgen hat. „Meine Tochter ist fünfzehn Jahre alt. Die kann nicht jeden Tag Nudeln mit Ketchup essen“, stellt die 53-jährige Leverkusenerin klar. Ihr falle es immer schwerer, einen halbwegs gesunden Lebensmitteleinkauf zu finanzieren – vom Restaurantbesuch ganz zu schweigen.
Jeder Dritte schränkt sich bei Lebensmitteleinkauf ein
Diese Wahrnehmung deckt sich mit Daten des Statistischen Bundesamtes, wonach Lebensmittel seit 2020 durchschnittlich um mehr als 30 Prozent teurer geworden sind. Der stärkste Preisanstieg war 2022 nach dem Beginn des russischen Krieges in der Ukraine zu verzeichnen. Obgleich die Energiekosten in Deutschland nach den Preisschocks Mitte 2022 laut Statistischem Bundesamt wieder sukzessive zurückgingen und sich darüber hinaus auch die Lieferketten wieder entspannten, erhöhten sich die Lebensmittelpreise, wenn auch verhaltener, weiter.

Der Lebensmitteleinzelhandel verzeichnete 2023 Rekordgewinne.
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Während das Kölner Handelsforschungsinstitut „EHI“ im Herbst vergangenen Jahres mitteilte, dass der deutsche Lebensmitteleinzelhandel 2023 erstmals einen Nettoumsatz von über 200 Milliarden Euro erwirtschaftete, ergab eine im Auftrag der Verbraucherzentrale erhobene Umfrage kürzlich, dass sich 39 Prozent der Befragten aufgrund der gestiegenen Preise beim Lebensmitteleinkauf einschränken.
Problem: Versteckte Preiserhöhungen
Cyris sagt, dass sie regelmäßig am Monatsende zu wenig Geld für einen ausreichenden Einkauf zur Verfügung habe. Gleichzeitig sei sie „nicht bedürftig genug“, um Lebensmittel bei der Leverkusener Tafel zu bekommen. „Da hilft es richtig, auf Stellen wie das ‚Foodsharing‘ zurückzugreifen“, betont sie. Um das Geld beisammen zu halten, versuche sie, nicht hungrig in den Supermarkt zu gehen, aber der Teufel stecke manchmal auch im Detail: „Was auch auffällt, dass Produkte gleich viel wie vorher kosten, aber jetzt weniger drin ist“, berichtet die Frührentnerin.
„Shrinkflation“ und „Skimpflation“ verteuern Lebensmittel versteckt
„Shrinkflation“ werde dieses Phänomen genannt, erklärt Frank Wasko von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Versteckte Preiserhöhungen für die Einkaufenden gebe es in verschiedenen Varianten: Entweder, weil die Menge bei gleich bleibendem oder steigendem Preis schrumpfe oder sogar, indem sich die Qualität verschlechtere. „Bei der sogenannten ‚Skimpflation‘ sparen die Hersteller bei der Zusammensetzung ihrer Produkte“, erläutert Wasko. Konkret bedeutet das laut Verbraucherzentrale zum Beispiel, dass „vorgefertigtes Pesto anstelle von Pinienkernen nun Cashewkerne“ enthält „oder das Olivenöl durch Sonnenblumenöl ausgetauscht“ wird.