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„Gesundheitssystem wird kollabieren“Leverkusener Arzt appelliert eindringlich an Lauterbach

Lesezeit 4 Minuten
Einem Menschen wird in einer Arztpraxis der Bluthochdruck gemessen.

Einem Menschen wird in einer Arztpraxis der Bluthochdruck gemessen.

Seit 23 Jahren praktiziert der Urologe in Leverkusen. In seinem Brief an Karl Lauterbach wird er deutlich: „Noch nie war der Frust so groß.“

Auf fünf Seiten Din-A4-Papier wählt Dr. Michael Stephan-Odenthal drastische Worte: „Noch nie war der Druck in der Praxis so hoch wie in den letzten drei Jahren und noch nie war der Frust und die Wut unter den Kolleginnen und Kollegen in Leverkusen so groß wie zurzeit.“ In einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister und Leverkusener Abgeordneten Karl Lauterbach holt der Arzt zum Rundumschlag in Sachen Gesundheitsversorgung aus.

Seit 30 Jahren ist Stephan-Odenthal nach eigener Aussage Urologe, seit 23 hat er eine Praxis, die er mit drei Kollegen als „Urologie Rhein-Berg“ im Ärztehaus „MediLev“ am Klinikum in Schlebusch betreibt. Ihn treibe die gesundheitliche Versorgung in Leverkusen und im ganzen Land um, schreibt er an den Gesundheitsminister.

Der Anteil der Über-80-Jährigen in Leverkusen habe sich in den vergangenen zehn Jahren auf fast 13.000 Menschen verdoppelt, bezieht sich der Arzt auf den städtischen Demografiebericht von 2021. 21,5 Prozent der Bevölkerung in Leverkusen seien demnach älter als 5 Jahre, auch die Zahl der Pflegebedürftigen habe sich verdoppelt, auf 12.255 Personen.

10.000 Patienten in Leverkusen und Umgebung

Diese demografische Entwicklung sei seit Langem absehbar gewesen und habe die Nachfrage nach medizinischen Leistungen, besonders in seinem Fachgebiet, erheblich steigen lassen. Das Problem ist laut dem Arzt: „Die Bedarfsplanung für die ärztliche Versorgung ist aber nur marginal angepasst worden.“

Er und seine Kolleginnen und Kollegen versorgen an insgesamt drei Standorten in Leverkusen mit acht Ärzten 5600 bis 6000 gesetzlich versicherte Patienten im Quartal. Mit den weiteren Standorten in Wermelskirchen, Leichlingen und Monheim und insgesamt zwölf Ärzten seien es bis zu 10.000. „Trotzdem ist der Vorlauf für geplante Behandlungen und Konsultationen viele Wochen.“

Zukünftig sei es unter den gegebenen Bedingungen nur schwer möglich, eine Notfallversorgung aufrechtzuerhalten. Denn Ärzte in Praxen trügen nicht nur das medizinische Risiko, sondern auch das wirtschaftliche. Was Stephan-Odenthal auch fehlt ist, „Anerkennung unserer Leistung“. „Von Kostenträgern und Politik werden wir vor allem in den Praxen nach Lust und Laune verunglimpft, als schlecht und geldgierig und innovationsunwillig dargestellt.“ Dabei habe man besonders in der Pandemie genau das Gegenteil gezeigt.

Den Ärzten als „Spitzenverdienern“ werde „jegliches Recht zur Einforderung sachlich berechtigter Honorarsteigerungen bzw. Honorarreformen abgesprochen“, schreibt er und sagt: „Derartig verachtend geht man mit keiner anderen Berufsgruppe in Deutschland um.“

Hart ins Gericht geht er diesbezüglich mit den „Kostenträgern“, also den Krankenkassen. Die hätten sich trotz sachlich korrekter Kalkulationen geweigert, die Honorare für die gestiegenen Kosten der Leistungserbringung zu ersetzen. Auch was Privatpatienten angehe, sei seit 1996 keine Anpassung an die Hygienekosten erfolgt. Und nun kommen Inflation, Energiekrise und weitere gestiegene Kosten hinzu. Und Ärzte könnten ihre Preise nicht anpassen.

Das führe in der Urologie dazu, dass gewisse Leistungen nicht mehr kostendeckend erbracht werden könnten. Auch könne man das nicht mehr durch mehr Privatpatienten auffangen. Die Folge laut Michael Stephan-Odenthal: Leistungen würden in die Krankenhäuser verschoben, wo das Personal allerdings auch schon am Rande der Belastbarkeit sei. „Im Endeffekt hat sich aus der Not heraus ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Praxen und Klinik entwickelt.“ Das sei im Sinne der Patientenversorgung inakzeptabel.

Der Arzt geht noch weiter: „Wenn der Gesetzgeber weiter keine klaren Regeln für die Anpassung von Vergütungen bei der allgemeinen oder speziellen Kostensteigerung einführt, wird dies in Deutschland zu massiven Einschränkungen der Versorgung führen.“

Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Das Hauptproblem laut Stephan-Odenthal: Die Trennung der Gesundheitsversorgung in unterschiedliche Vergütungssystematiken. Er fordert eine einheitliche Vergütung als Chance, „sich mehr als bisher in die Versorgung miteinbringen zu können“. Sie sieht das auch Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. In einem Beitrag für das Ärzteblatt wird er zu den Vorteilen einer ambulanten Behandlung zitiert: Patienten müssten „aus der Häuslichkeit nicht raus, sondern sind eigentlich wieder in der vertrauten Umgebung“.

Auch die von Karl Lauterbach zuletzt auf dem Wirtschaftsempfang in Leverkusen noch angekündigte Digitalisierung sieht der Arzt „zum Scheitern verurteilt“: „Zuerst müssen die Anwendungen für alle Patienten leicht zu handhaben sein, dann muss die Technik stabil sein, dann kann der weitere Roll-out stattfinden.“

Michael Stephan-Odenthal formuliert konkret sechs Forderungen: Praxisärzte verdienten Respekt und Anerkennung und keine Verunglimpfung. Durch Steuerungselemente wie eine Selbstbeteiligung soll die künftige Behandlungsmenge eingegrenzt werden.

Die Honorare müssten im Zuge einer klaren gesetzlichen Systematik eingegrenzt werden, vor allem im ambulanten Bereich. Der Gesundheitsminister soll klar bekennen, wo in Zukunft die ambulante fachärztliche Versorgung stattfinden soll, dazu soll es Anreize dafür geben, Praxen auf dem Land zu eröffnen und keine Gesundheitskioske, dazu eine Digitalisierung mit klarem Nutzen. Ohne diese Änderungen werde das Gesundheitssystem kollabieren.