Nach Leverkusen geflüchtet„Ich musste meine Kinder vor diesem Krieg beschützen“
Leverkusen – Schon drei Wochen vor dem Krieg saß Olena auf gepackten Koffern. „In den Nachrichten hieß es, dass man sich auf alles vorbereiten muss“, erzählt sie. Trotzdem zögerte Olena, bevor sie ihre Heimat in der Ukraine zurückließ. Eine leise Hoffnung darauf, dass das Alles doch noch anders ausgeht, hielt sie zurück.
Erst am 27. Februar, drei Tage, nachdem Putins Truppen in die Ukraine einmarschierten, zog sie gemeinsam mit ihren zwei Söhnen los. „Ich musste meine Kinder vor diesem Krieg beschützen“, sagt Olena. Heute wohnt sie mit 90 anderen geflüchteten Menschen in der Unterkunft an der Merziger Straße – und blickt gemeinsam mit ihnen in eine ungewisse Zukunft.
Eigentlich wollte die Stadt die Containeranlage Ende März aufgeben – es gab schlicht keinen Bedarf mehr. 2017 wurde sie als Unterkunft für Geflüchtete erbaut. Schon bald wurde das zweistöckige Gebäude für andere Zwecke genutzt – während der Corona-Pandemie diente es als Quarantäne-Lager, als im Sommer die Flut nach Leverkusen kam, wurden hier Bewohner eines Seniorenheims untergebracht. Weil die Grundschule an der Morsbroicher Straße saniert werden muss, sollte hier übergangsweise unterrichtet werden. Doch dann kam der Krieg. Die Unterkunft war schnell wieder voll.
Keine Sirenen dröhnen mehr durch die Nacht
Auf den weißen Gängen herrscht Gewusel. Als Natascha dem Reporter in der Gemeinschaftsküche von ihrer Geschichte erzählt, huschen immer wieder Kinder durch den Raum, der ärztliche Dienst ist vor Ort und sucht nach jemandem, der bei den Untersuchungen beim Übersetzen hilft.
Olena sagt, sie sei glücklich in der Unterkunft. Trotz des Gewusels sei es friedlich, keine Sirenen dröhnen mehr durch die Nacht. Sie sagt aber auch: „Die Ungewissheit darüber, was in der Ukraine noch passiert, ist kaum auszuhalten.“ Ihr Mann musste in der Ukraine bleiben, sie telefonieren jeden Tag.
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Olena und ihre Mitbewohner führen ein Leben im beklemmenden Wartezustand. Zwischen Anrufen in die Heimat, dem Blick in die Nachrichten und dem Versuch, den Krieg wenigstens für ein paar Minuten vergessen zu können. „Wie alle haben ein gemeinsames Leid“, sagt Natascha. Das schweiße zusammen.
Die 39-Jährige sagt: „Es ist ein einfaches Leben, das wir hier führen.“ Gemeinsam gehen die Bewohner spazieren, erzählen einander von ihrer Heimat, und versuchen, ihr neues Leben einzurichten. Einige würden schon versuchen, Deutsch zu lernen. Diejenigen, die schon länger da sind, nehmen die Neuankömmlinge in Empfang und zeigen ihnen das Wichtigste – die Sanitäranlagen, die Küchen, den Gemeinschaftsraum und den Spielplatz für die Kinder, direkt vor der Tür.
Zumindest den Kindern gelinge es, etwas Abstand zu den Geschehnissen in der Ukraine zu gewinnen, sagt Anastasiia. Die 31-Jährige ist gemeinsam mit ihrer sechsjährigen Tochter aus Kiew nach Deutschland geflohen, auch ihr Mann musste in der Ukraine bleiben. Über ihre Tochter sagt sie: „Sie versteht noch nicht, was das alles zu bedeuten hat. Für sie ist das alles eine große Abenteuerreise.“
Gemeinsam mit ihrer Tochter versucht Anastasiia das karge, zwölf Quadratmeter große Zimmer, das sie mit einer weiteren Person teilen, wohnlicher einzurichten. An der Wand über dem Bett hängt ein buntes Poster, auf dem Nachttisch stehen Fotos aus der Heimat.
Die Frauen sind bei all dem Leid, dass ihnen widerfahren ist, dankbar für die große Hilfsbereitschaft in Leverkusen. Einer der Helfer hier ist Alexej Ratschkow-Ballach, Spätaussieder aus Kasachstan. Schon seit den 90er-Jahren lebt er in Deutschland, arbeitet als Hausmeister in einer evangelischen Gemeinde in Leverkusen.
Seitdem die Zimmer auf der Merziger Straße bezogen wurden, ist er fast jeden Tag vor Ort. Er hilft beim Übersetzen, organisiert das Zusammenleben und kümmert sich um Spenden. Auch seine kleine Tochter bringt er regelmäßig mit an die Merziger Straße. „Die versteht sich prima mit den anderen Kindern hier.“ Das Zimmer von Anastasiia, ganz am Ende des langen Flurs, sei so etwas wie das Kinderzimmer für die ganze Einrichtung geworden, sagt er und lacht.
Fast nur Frauen und Kinder in der Unterkunft
Weil wehrpflichtige Männer die Ukraine nicht verlassen dürfen, wohnen fast nur Kinder und Frauen in der Unterkunft. Einer der wenigen Männer hier ist Aliko Vakthagishvili. Er besitzt einen georgischen Pass, deswegen konnte er vor dem Krieg fliehen.
In der Unterkunft ist der 38-jährige eine große Hilfe. „Ich habe schon einige Zeit in Deutschland als Möbelmonteur gearbeitet. Die Sprache habe ich mir selbst beigebracht“, sagt er. Gemeinsam mit Ratschkow-Ballach läuft er permanent durch die Anlage. Hilft mal hier und mal dort beim Übersetzen. „Ich sage ihm die ganze Zeit: Aus dir wird hier noch was werden“, sagt Ratschkow-Ballach über ihn.
Darüber, was aus ihnen werden wird, will niemand der Bewohner spekulieren. Zu ungewiss erscheint der Ausgang des Krieges, zu ungewiss auch ihre Zukunft in Leverkusen. Die Unterkunft an der Merziger Straße ist als Übergangquartier gedacht. Mittelfristig will die Stadt Wohnungen in Leverkusen vermitteln. Doch wie das bei dem großen Bedarf funktionieren soll, ist noch ungewiss.
Trotzdem – irgendwie muss das Leben weitergehen. Anastasiia erzählt von ihren beiden Nichten, die ebenfalls zusammen mit nach Leverkusen geflüchtet sind. „Die beiden Mädchen sind begabte Turnerinnen.“ Schon einmal waren sie deswegen mit ihrer ukrainischen Mannschaft für einen Wettkampf in Leverkusen. Auch deswegen habe sich die Familie für die Stadt als Fluchtort entschieden. „Seitdem die beiden Mädchen hier sind, trainieren sie den ganzen Tag“, sagt Anastasiia. In den Hallen des TSV Bayer Leverkusen finden sie dafür Platz. „Wenn sie das nächste Mal nach Leverkusen kommen“, blickt Anastasiia hoffnungsvoll in die Zukunft, „dann mit der Nationalmannschaft der Ukraine.“