Kai Tippmann kennt sich mit dem italienischen Fußball aus und spricht über das Europa-League-Halbfinale AS Roma gegen Bayer 04 Leverkusen.
Experte für Fankultur berichtetWas die italienischen Fußballfans über Leverkusen denken
Kai Tippmann lebt seit mehr als 20 Jahren in Italien, betreibt dort die Internetseite altravita.com über italienische Fußball- und Fankultur und übersetze das relevante Szenebuch „Stadionrebellen – eine Geschichte der italienischen Ultrabewegung“ von Pierluigi Spagnolo ins Deutsche. Er spricht im Interview über die bevorstehenden Spiele zwischen Rom und Bayer 04.
Herr Tippmann, vor der Begegnung zwischen der AS Rom und Bayer Leverkusen gab es gehörig Aufregung: Bayer ließ als erster Verein hierzulande überhaupt ein Bundesligaspiel verlegen, um mehr Vorbereitungszeit für das Halbfinale zu haben. Begründung: ein übergeordnetes Interesse des deutschen Fußballs. Das haben nicht alle Fans außerhalb Leverkusens verstanden. Es gab Kritik. Wie würden die Fans in Italien das sehen?
Kai Tippmann: Das ist auch Mehrheitsmeinung in Italien. Es gibt zwar eine Fraktion, die mit Länderpunkten oder dem Weiterkommen einer italienischen Mannschaft argumentiert. Aber das sind typischerweise Auslands-Italiener. Diesen Patriotismus kenne ich viel, viel stärker von Italienern, die in Deutschland wohnen. Nicht von Fans aus Italien. Ich kenne das ja selber: Ich bin seit Ende der 80er-Jahre Milan-Fan – und will natürlich, dass alle italienischen Mannschaften außer meiner eigenen ständig verlieren. Da ist es mir doch egal, ob irgendjemand anderes in der Champions League oder der Europa League weiterkommt. Mich interessiert mein Team – und gut ist. Es gibt im Italienischen ein Verb, „gufare“, das in diesem Zusammenhang übersetzt etwa soviel heißt wie: Ich schaue mir das Spiel einer anderen Mannschaft als meiner eigenen mit dem Ziel an, diese Mannschaft verlieren zu sehen. Und das machen hier alle.
Also halten Sie es in den beiden Halbfinals mit Leverkusen?
Natürlich, denn ich habe ja nichts gegen Leverkusen. Genauso wie ich überhaupt nichts gegen irgendeine deutsche Mannschaft habe – auch wenn es da ein paar gibt, die mir ein bisschen sympathischer sind, andere weniger. Aber im Prinzip ist es mir egal. Wichtig ist: Ich als Milan-Fan habe natürlich mit der Roma eine Rivalität. Und die schalte ich ja nicht ab, nur weil es eine italienische Mannschaft im Europacup ist.
Sie kennen sich mit dem italienischen Fußball und der dortigen Fankultur bestens aus. Was erwartet die Leverkusener Fans in Rom?
Das Stadio Olimpico in Rom ist schon ein schönes Ding. Und wenn man aus einer eher kleinen Fanszene wie Leverkusen kommt, dann ist das natürlich eine großartige Reise. Wenn das ganze Olimpico die Hymne singt, kurz vorm Anpfiff, dieses „Roma! Roma! Roma!“, in diesem Fahnenmeer und womöglich auch unter Einsatz von Pyrotechnik, dann wird das ein sehr, sehr erhebender Moment. Dann werden die Knie weich. Trotzdem ist das Stadion nun nicht bekannt dafür, das heißeste in Italien zu sein. Da wird jetzt nicht 90 Minuten lang der Baum brennen. Die Roma wird diesbezüglich vielmehr immer so ein wenig belächelt in Italien. Nach dem Motto: Ja, ja, die singen da ihre Hymne. Aber dann ist Ruhe – außer beim Torjubel. Wobei es so schlimm sicherlich auch nicht ist. Die Kurve wird sich für das Halbfinale zurechtmachen. Insofern wird es so oder so ein schönes Ereignis für alle, die dorthin fahren.
Und wie sieht es mit dem Sportlichen aus?
Tja, die Roma ist nicht besonders konstant. Wenn man sie in einem eigenen guten Moment erwischt, dann kann man sie tatsächlich besiegen. Sie sind manchmal so ein bisschen unkonzentriert. Ansonsten ist und bleibt sie eben eine italienische Mannschaft: Sie ist in der Verteidigung relativ gut aufgestellt, hat einige gute Offensivspieler – und mit José Mourinho einen relativ bekannten Trainer, von dem auch Sie in Deutschland sicherlich schon gehört haben. (lacht) Es wird also ein hartes Stück Arbeit.
Eine Woche später kommt es zum Rückspiel in Leverkusen. Sind Scharen von italienischen Fans zu erwarten?
10.000 oder 20.000 Fans bei einem Auswärtsspiel, zumal im Europacup – das gibt es nur, wenn deutsche Vereine in Italien spielen. Aber nicht, wenn italienische Clubs in Deutschland spielen. Und das hat verschiedene Gründe. Unter anderem ökonomische. Aber auch Repressionsgründe. Wissen Sie: Das letzte Jahrzehnt war für die italienische Fankultur nicht unbedingt schön. Es gibt mittlerweile für Gästefans die „Tessera del Tifoso“, eine elektronische Fankarte, auf der die persönlichen Daten gespeichert werden. Es haben sich viele alte und große Gruppen aufgelöst. Das alles spielt eine Rolle und führt dazu, dass nicht gleich viele Tausend Fans aus Rom in Leverkusen aufschlagen werden. Überhaupt: Wer mal in einem italienischen Gästeblock in Deutschland gestanden hat, der wird relativ zügig festgestellt haben, dass maximal ein Drittel der Leute dort tatsächlich Fans vom gerade spielenden Verein sind. Die anderen sind, salopp gesagt, Pizzabäcker aus dem Umland, die dann als Italiener Fans jedes Vereins aus ihrem Land sind, der mal in der Gegend spielt.
Verglichen mit Riesen wie Bayern München oder Borussia Dortmund: Wie bekannt ist Bayer Leverkusen in Italien?
Nicht wirklich bekannt. Ich könnte jetzt nicht rausgehen, auf der Straße 100 Menschen darauf ansprechen – und dann erwarten, dass sie Leverkusen kennen. Bayer hat diesbezüglich keine besondere Strahlkraft.
Rom ist gefühlt ein Club für Millionen. Die meisten Fans der Werkself kommen direkt aus der Stadt…
…und ich bin ein ganz großer Anhänger von diesem „Support your local football club“ – „Unterstütze den Verein deiner Stadt“. Leute, die in Leverkusen geboren sind und dort leben, sollten natürlich zu Leverkusen halten und zu Leverkusen gehen. Zu wem denn sonst? Diese Idee, zu Bayern oder PSG zu halten, nur weil die irgendwie erfolgreicher sind, ist mir komplett zuwider. Und wenn Leverkusen nun auch nicht die größte Stadt ist in Deutschland und eine kleinere Fanszene hat, dann ist das ja kein Grund, weniger stolz darauf zu sein. Und was Rom angeht: Rom hat jetzt auch noch nicht die Welt gewonnen. Das Ausbreitungsgebiet der Roma-Fans ist zwar über die Stadt hinaus auch die ganze Region Latium. Aber in diesem Umland gibt es natürlich auch weniger andere Vereine, als das bei Leverkusen der Fall ist. Da ist eben sonst nur noch Lazio, mit denen es diesen ewigen Streit gibt, wer denn nun mehr Fans hat.
Und?
Ich würde sagen: vermutlich die Roma.
Welches Standing hat denn die AS Rom mitsamt ihrer Fanszene in Italien?
Fans bedeutet in Italien: Ultras. Und für alle, die die Ultra-Zeiten von den 70er- bis zum Beginn der 2000er-Jahre miterlebt haben, ist die Roma sicherlich eine der großen Fanszenen des Landes. Eine, der immer mit großem Respekt begegnet wurde – und noch immer wird. Auch wenn es in den vergangenen Jahren, wie bei vielen anderen Clubs, weniger geworden ist. Es ist eben die Hauptstadt. Und einen Hauptstadtverein, der wenig respektiert wird, gibt es auch nur in Deutschland, mit der Hertha, oder? (lacht)
Was sollten jene Bayer-Fans, die zum Hinspiel nach Rom reisen, vor Ort beachten?
Rom ist zwar eine schöne Stadt. Eine der schönsten der Welt. Und ich würde da auch hinfahren. (lacht) Aber es ist auch eine relativ gefährliche Stadt. Ich will jetzt niemandem Angst machen. Aber Rom leidet unter einer gewissen Bandenkriminalität und es gibt nicht selten den Einsatz von Stichwaffen – völlig unabhängig vom Fußball. Es werden zwar keine Ultra-Horden mit Messern unterwegs sein. Aber man sollte als Auswärtsfan nicht unbedingt mit Fanschal, Trikot und allein und schon gar nicht in der Peripherie unterwegs sein. In Gegenden, die weniger touristisch sind, kann immer irgendetwas passieren.
Vor allem die deutschen Ultras haben sich lange an den Fanszenen in Italien orientiert. Gibt es im Gegenzug etwas, was die deutschen Fanszenen den in Italien voraushaben?
Die hohe Beteiligungsquote unter deutschen Fans, die Choreografien, diese Reisefreudigkeit – all das wird schon wahrgenommen. Das, was in Deutschland gerade passiert, erinnert viele italienische Fans an die alte Zeit. So nach dem Motto: So schön war es hier bei uns in Italien in den 90ern auch mal. Aber das hat sich alles geändert.