Eine neue Statistik macht Hoffnung. Aber nimmt die Gefahr von Alkoholmissbrauch tatsächlich ab? Es ist Skepsis angebracht, sagt ein Experte.
Suchthilfe LeverkusenWeniger Alkoholvergiftungen bei Jugendlichen – aber keine Entwarnung
Die Zahl der Krankenhausbehandlungen junger Menschen von zehn bis 19 Jahren aufgrund akuter Alkoholvergiftungen ist zuletzt in Leverkusen und auch ganz NRW deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2021 gab es im Land 7,4 Prozent weniger Behandlungsfälle als 2020. Und in der Stadt wurden 2021 nur neun Fälle registriert – knapp 44 Prozent weniger als im Vorjahr. Drei männliche Jugendliche (2020: neun) mussten mit einer Alkoholvergiftung stationär behandelt werden, hinzu kamen sechs Patientinnen (2020: sieben). Zehn Jahre zuvor hatte es in Leverkusen sogar 52 Fälle gegeben, 2012 waren es gar 57, wobei fast doppelt so viele Jungen wie Mädchen betroffen waren.
Jugendliche missbrauchen seltener die Alltagsdroge Alkohol. Auf den ersten Blick ist das die logische Schlussfolgerung der Zahlen, die das Statistische Landesamt kurz vor Weihnachten veröffentlicht hat. Aber stimmt dieser Eindruck?
Michael Schätzle ist skeptisch: „Grundlage der Statistik sind Extremsituationen. Es gibt deutlich mehr Jugendliche, die mit massiven Auswirkungen zu viel Alkohol getrunken haben, ohne ins Krankenhaus zu kommen.“ Schätzle ist für die Suchthilfe Leverkusen im Bereich der Suchtvorbeugung tätig, er arbeitet mit Jugendlichen und ihren Bezugspersonen also daran, dass Alkohol gar nicht erst zum Problem wird. Wer noch nie mit einer Intoxikation oder Ausfallerscheinungen im Krankenhaus war, sei nicht auf der sicheren Seite, sagt er.
„Alkohol ist heute ein besonderes Thema in der Lebenswelt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“, sagt Schätzle. „Das war aber schon immer so und wird auch so bleiben.“ Das gelte jedoch keineswegs nur für junge Menschen, „was sie machen, steht ja häufig unter Generalverdacht“, so Schätzle: „Was die Erwachsenenwelt im Umgang mit Alkohol zeigt, ist kein Deut weniger riskant.“
„Wer nicht trinkt, muss das häufig legitimieren“
Die Jugendzeit sei aber eine wichtige, wenn es darum gehe, sich gegen Risiken eines problematischen Alkoholkonsums zu wappnen. Da passiere entwicklungspsychologisch betrachtet besonders viel mit Menschen. Eine der Entwicklungsaufgaben sei die Auseinandersetzung mit Konsumangeboten: „Bis zum Erwachsenenalter hat jemand im besten Fall eine Haltung gefunden, die von Verantwortungsbewusstsein geprägt ist“, sagt Schätzle. Am besten sei es, wenn Suchtmittel gar nicht konsumiert würden, „null Konsum, null Risiko“, lautet die eingängige Formel. Wenn aber ein Konsum stattfinde, sei es wichtig, dass er keinen negativen Einfluss auf die Lebensführung hat.
„Wer keinen Alkohol trinkt, muss das häufig legitimieren, muss erklären: Ich fahre, nehme Medikamente oder bin schwanger“, sagt Schätzle: „Daran kann man ablesen, dass der Nicht- oder Wenigkonsum auffällt. Und das ist bei Jugendlichen auch so.“
Bei Veranstaltungen in Leverkusener Schulen und mit Fachkräften aus der Jugendarbeit und -hilfe gehe es Schätzle und seinen Kolleginnen und Kollegen aber nie um mahnende Worte, erzählt er: „Wir sagen nicht, tu dies, lass das. Es geht nicht um richtig und falsch oder Moral“. Das Ziel besteht darin, den Erfahrungen von Jugendlichen Raum zu bieten und diese nicht zu verurteilen – und vor allem Fragen zu stellen: Wie fühlt es sich an, wenn andere Druck erzeugen, Alkohol zu trinken? Was würde es bedeuten, wenn ihr bei einem Nein bleibt? Wie ist das, wenn du dich dem Druck beugst? Welche alternativen Optionen hast du? Gibt es im Freundeskreis jemanden, der es ähnlich sieht? Und, ganz zentral in der Suchtvorbeugung: Wie sieht eine verantwortungsvolle Haltung für dich aus? Schätzle will die Wege zu einer solchen Haltung nicht vorgeben, sondern gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern entdecken.
Es gebe aber auch mehr oder minder konkrete Schutzfaktoren, die eine gewisse Robustheit gegenüber Suchtverlockungen bieten könnten: „Je stabiler eine Persönlichkeit im Leben steht, sichere Bindungen hat, mit Selbstbewusstsein ausgestattet ist, weiß, was sie kann, ein Gefühl für Grenzen hat, Freundschaften pflegt und mit Kritik umgehen kann, desto besser ist sie gerüstet“, erklärt Schätzle. Gerüstet für Fälle also, in denen das Leben einem Herausforderungen vor die Füße schmeißt. Wer eine solche robuste Persönlichkeit entwickelt habe, sei meist weniger gefährdet, Hilfsmittel wie Alkohol hinzuziehen, wenn es schwierig werde. „Aber eine Garantie gibt es nicht“, sagt Schätzle, „das wäre zu einfach.“
Und wird heutzutage nun immerhin verantwortungsvoller von Jugendlichen Alkohol konsumiert als noch vor Jahren? „Ich würde das gerne bejahen“, sagt Schätzle, „ich kann es aber nicht.“ Alkohol sei nach wie vor leicht verfügbar, werde beworben, sei überhaupt selbstverständlich. „Da ist es nicht verwunderlich, dass es zu Problemen kommt.“
Die Veranstaltungen der Suchthilfe Leverkusen finden bereits in Kitas statt. Dort geht es darum, in der frühen Kindheit Grundsteine für die Persönlichkeitsentwicklung zu legen. In Schulen, Jugendeinrichtungen und Betrieben wird die Arbeit fortgeführt: Es wird sowohl direkt mit Jugendlichen gearbeitet als auch mit Lehrkräften, Sozialarbeitern und Eltern. Informationen und Kontaktinformationen der Suchthilfe Leverkusen sind auf deren Webseite zu finden: suchthilfe-lev.de