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Kindesmissbrauch in LügdeDrei Geständnisse, eine Entschuldigung – Der Prozessauftakt

Lesezeit 4 Minuten
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Andreas V. verbirgt sein Gesicht hinter einem Aktenordner beim Prozessauftakt

  1. Beim Prozess-Auftakt um den Kindesmissbrauch in Lügde haben die drei Angeklagten gestanden.
  2. Der Hauptangeklagte Andreas V. zeigte sich unkooperativ und entschuldigte sich nicht.
  3. Am Freitag werden einige Opfer gehört – sie müssen denk der Geständnisse nicht umfänglich aussagen.

Detmold – Sie wollte diese Männer unbedingt einmal sehen. Wissen, ob sie Reue zeigen, ob sie gestehen und was sie dann über die monströsen Taten sagen, die sie begangen haben sollen, sagt eine junge Zuschauerin am Donnerstagmorgen. Kurz nach neun Uhr betreten die drei Männer Saal 165 des Detmolder Landgerichts.

Andreas V., 56, der Hauptangeklagte, blaue Jeans, graue Kapuzenjacke und T-Shirt mit Palmen-Motiv vor Sonnenuntergang. Sein Gesicht wirkt eingefallen, die Haut aschfahl. V. ist jener Mann, der über zwei Jahrzehnte hinweg in seiner schäbigen, zugemüllten Baracke auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde in 298 Fällen Kinder missbraucht und dabei auch gefilmt haben soll.

34 Opfer zwischen vier und 13 Jahren

Neben ihm sitzt Mario S., 34, rauschender Bart, Bauch und gekrümmter Rücken. 162 Mal soll er sich an Kindern vergangen haben. Dabei ist auch Heiko V., 49, glatzköpfig, kariertes Hemd. Er soll in vier Fällen via Video-Livechats bei den Taten zugeschaut haben. Andreas V. und Mario S. drohen lange Haftstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung. Alle drei werden später ein Geständnis ablegen.

Gemeinsam sollen die Männer verantwortlich sein für den größten Fall von sexuellem Missbrauch in der Geschichte Nordrhein-Westfalens: Laut Anklage 34 Opfer, zum Tatzeitpunkt zwischen vier und 13 Jahre alt, mehr als 450 Taten, 1100 Seiten Anklageschrift. Im Saal sitzen dicht gedrängt 19 Nebenklageanwälte, die 30 mutmaßliche Geschädigte vertreten.

Geständnisse, damit den Opfern Aussagen erspart bleiben

Die meisten ihrer Mandanten, manche davon heute schon erwachsen, sind in psychotherapeutischer Behandlung. „Für die Kinder ist es ein wichtiger Tag“, sagt Nebenklage-Anwalt Roman von Alvensleben. „Es geht jetzt darum, dass die Angeklagten gestehen und den Opfern damit eine Aussage erspart bleibt.“

Mehrfach schickt Richterin Anke Grudda Journalisten und Zuschauer aus dem Saal. Schon bei der Anklageverlesung wird die Öffentlichkeit zum Schutz der Opfer ausgeschlossen. Bis zum Mittag ringen die Prozessbeteiligten um Einlassungen der Angeklagten. Die Anwälte von Mario S. und Heiko V. signalisieren ihre Bereitschaft.

Andreas V. gesteht, kooperiert aber nicht weiter

Nur Andreas V. weigert sich noch. In einem Rechtsgespräch kann das Gericht den Hauptangeklagten doch erweichen. Nach der Mittagspause lässt er seinen Anwalt ein Geständnis verlesen. Bis auf elf Fälle räume er die Taten vollumfänglich ein. Eine Entschuldigung lässt er aus. Überhaupt lehnt er jede weitere Kooperation ab. Er werde weder für Fragen zur Verfügung stehen noch sich psychiatrisch begutachten lassen, erklärt sein Verteidiger. V. sitzt ungerührt daneben.

Jann Henrik Popkes, Verteidiger von Heiko V., gibt Interviews.

Auch Mario S. gesteht. Bis auf einen Fall aus den 90er Jahren habe er die Taten begangen, lässt er über seinen Verteidiger mitteilen. Dann ergreift er selbst das Wort. „Ich schäme mich“, sagt er mit kaum hörbarer Stimme. Er bittet die Opfer um Entschuldigung, auch wenn ihnen das nichts bringen würde. „Wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich das gerne machen.“

Zehntausend Bild- und Videodateien entdeckt

S. ist auch der einzige der Angeklagten, der öffentlich Angaben zur Person macht. Er besuchte die Sonderschule, machte eine Ausbildung zum Baumaler, putzte später Toiletten in einem Einkaufscenter und sammelte Leergut. Bis zu seiner Festnahme wohnte er bei seinen Eltern in Steinheim. Auch Heiko V. gesteht, angeblich unter Tränen, wie später zu hören ist. Auch bei seiner Aussage wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen.

Den Angeklagten blieb kaum anderes als ein Geständnis übrig. Die Beweislast war erdrückend. Auf den Computern der drei Angeklagten wurden bei Durchsuchungen Zehntausende Bild- und Videodateien entdeckt, die unter anderem auch den Missbrauch in der vermüllten Campingplatz-Parzelle von Andreas V. zeigen sollen.

Den Opfern eingeredet, den Eltern könnte etwas passieren

Zahlreiche Opfer haben in Vernehmungen detailliert sein perfides System aus Belohnung und Bestrafung geschildert. Demnach kaufte V. Süßigkeiten, ging mit den Kindern Schwimmen oder in den Freizeitpark, spielte am Lagerfeuer den netten Onkel. Dann forderte er sexuelle Handlungen als Gegenleistung. Damit die Kinder nichts ausplaudern, habe er ihnen eingeredet, den Eltern könne sonst etwas zustoßen.

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Der Prozessauftakt dürfte auch von der Politik mit Spannung erwartet worden sein. Denn der Missbrauch-Fall von Lügde hat nicht nur drei Täter vor Gericht gebracht, sondern auch schwerwiegende systemische Schwachstellen bei den Jugendämtern und Inkompetenzen bei der Polizei offengelegt.

Inkompetenz bei Polizei und Jugendamt

Am Dienstag, zwei Tage vor Prozessbeginn, hatte der NRW-Landtag in Düsseldorf als Reaktion auf etliche Pannen und Verfehlungen von Seiten der Polizei und der Jugendämter die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beschlossen. Hinweise auf die pädophilen Neigungen des Hauptangeklagten gab es zahlreich, doch wirklich nachgehen wollten ihnen offenbar weder Ämter noch Polizei. Ein entsprechender Vermerk beim Jugendamt Hameln-Pyrmont wurde im Dezember 2018 sogar gelöscht – kurz bevor die Staatsanwaltschaft auftauchte.

Fragwürdig ist auch, wieso das Jugendamt Hameln-Pyrmont Andreas V. eine Pflegetochter anvertraute, obwohl mindestens die Wohnverhältnisse in seiner Camping-Baracke bekannt waren. Das Mädchen habe V. schließlich benutzt, um weitere Kinder in seinen Verschlag zu locken. „Die Gesellschaft sollte aus diesem Verfahren lernen, anders mit Missbrauch umzugehen“, sagt von Alvensleben. „Hinweise müssen konsequent verfolgt werden.“

Am Freitag werden auch einige der mutmaßlich missbrauchten Kinder vor Gericht erscheinen. Umfassende Aussagen werden sie aufgrund der Geständnisse der Angeklagten nicht mehr machen müssen. „Für sie ist heute ein guter Tag“, sagt von Alvensleben sichtlich gelöst. „Denn die Kinder wissen jetzt: Man glaubt ihnen.“