Zu Testzwecken wurden in Mönchengladbach in den 50er und 60er Jahren Kindern in Heimen Medikamente verabreicht.
Der Skandal um die Medikamententests wirft ein Schlaglicht auf die fragwürdige Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland. Offenbar hatten die Leitungen keine Bedenken, die Schutzbefohlenen medizinischen Tests auszusetzen.
Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat mit sechs Betroffenen gesprochen.
Mönchengladbach – Sie heißen Harald, Josef, Werner, Heinz, Herbert und Hans-Jürgen. Sechs Männer im Alter zwischen 63 und 67 Jahren sind zusammengekommen, um über das reden, was ihnen in ihrer Kindheit angetan worden ist. Sie alle sind in Heimen groß geworden - und teilen dasselbe Schicksal. „Ich erinnere mich noch an genau an die grünen Pillen“, berichtet Werner mit leiser Stimme. „Die musste ich jeden Morgen schlucken. Danach musste ich den Mund weit aufmachen. Die Schwestern sahen unter der Zunge nach, ob alles drin war. Auch mittags und abends gab's die Dinger. Mir war immer ganz komisch danach.“
Werner ist vier Jahre alt, als er 1959 in ein katholisches Kinderheim in Mönchengladbach eingewiesen wird. Bei den Medikamenten, die ihm verabreicht werden, handelt es sich um die Neuroleptika „Truxal 50“ und „Melleril retard 200“. Die Präparate befinden sich damals noch in der Entwicklungsphase. Wie wirkt das Mittel bei Kindern? Wie stark sind die Nebenwirkungen? „Wir waren die Versuchskaninchen“, sagt Werner verbittert.
Ein Skandal, der bislang in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung fand
Allen Männern, die zum Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ gekommen sind, wurden in den 50er und 60er Jahren in Kinderheimen zu Testzwecken Medikamente eingeflößt. Eine Auswertung medizinischer Fachzeitschriften aus dieser Zeit ergab, dass mindestens 80 Versuchsreihen mit Psychopharmaka, Antidepressiva, Schlaftabletten, Neuroleptika, Impfstoffen und Beruhigungsmitteln an Heimkindern durchgeführt wurden. Ein Skandal, der bislang in der Öffentlichkeit nur wenig Beachtung fand. Die Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner schätzt, dass es mehr als Zehntausend betroffene Kinder gibt. „Viele wurden über Monate und Jahre für Medikamentenversuche benutzt. Oft war das Ziel, die verhaltensauffällige Kinder ruhig zu stellen oder den Sexualtrieb zu dämpfen. Die Tests waren ethisch nicht zu rechtfertigen.“
Gesetzliche Regelungen zu klinischen Versuchsreihen an Menschen und ein staatlich beaufsichtigtes gab es damals noch nicht. Heimkinder, die keinen Kontakt zu den Angehörigen hatten, wurden von den Heimärzten als Probanden für die Experimente ausgewählt. Die Opfer leiden häufig bis heute unter den Folgeschäden, die der Parkinson-Krankheit ähneln. „Ich habe regelmäßig Zuckungen und Krampfanfälle“, berichtet Heinz.
Heime hatte offenbar keine Bedenken
Die Heime, die oft unter katholischer oder evangelischer Trägerschaft standen, hatten offenbar keine Bedenken, die Schutzbefohlenen medizinischen Tests auszusetzen. „Die haben billigend in Kauf genommen, dass die Kinder vergiftet wurden“, sagt Uwe Werner, Sprecher des Vereins „Ehemalige Heimkinder NRW“. „Alle Beteiligten haben große Schuld auf sich geladen“, für er hinzu. „Weil sich viele wegducken, steht die Aufarbeitung immer noch am Anfang.“
In der Anlaufstelle der Community der ehemaligen Heimkinder kommen in Mönchengladbach-Rheydt täglich Opfer zusammen, um sich auszutauschen und zu unterstützen. Die Pharmatests haben tiefe Spuren hinterlassen. Die meisten Betroffenen haben sich im Leben nicht zu Recht gefunden, nicht wenige sind auf der Straße gelandet. „Viele können weder lesen noch schreiben. Man nimmt uns bis heute nicht ernst“, sagt Uwe Werner.
Schlaglicht auf die fragwürdige Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland
Der Skandal um die Medikamententests an Heimkindern wirft ein Schlaglicht auf die fragwürdige Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland. In viele Einrichtungen hatten Ärzte und Psychiater das Sagen, die schon in der NS-Zeit praktiziert hatten. Im Nationalsozialismus waren verhaltensauffällige Jungen und Mädchen sowie Kinder aus unliebsamen Familien regelmäßig für „schwachsinnig“ erklärt worden. Im Rahmen des Euthanasie-Programms „Aktion T4“ wurden sie in den Tod geschickt worden. Die Geisteshaltung, Heimkindern als „unwertes Leben“ zu betrachten, war in der Ärzteschaft der jungen Bundesrepublik noch vielfach verhaftet.
Harald erzählt von seiner Kindheit im „Franz Sales Haus“ in Essen. Das Heim war 1884 als katholischen Anstalt für geistig behinderte Kinder gegründet worden. In den Jahren 1957 und 1958 wurden dort Studien mit dem Neuroleptikum „Decentan“ durchgeführt. „Ich hatte regelmäßig Nebel vor den Augen“, erinnert sich der 68-Jährige bis heute. „Wer die Pillen nicht nahm, dem wurde mit der großen Spritze gedroht.“
Die Vorgehensweise habe der „damals üblichen Praxis in der Pharmabranche“ entsprochen
„Decentan“ wurde 1957 vom dem Pharmahersteller Merck in Deutschland auf den Markt gebracht. Das Unternehmen mit Sitz in Darmstadt räumt ein, dass Arzneimitteltests für das Präparat auch in deutschen Kinderheimen und psychiatrischen Einrichtungen durchführt worden seien. Dies sei aber nicht verboten gewesen. „Nach unserem Kenntnisstand hat Merck nicht gegen geltendes Recht verstoßen“, so Merck-Sprecher Gangolf Schrimpf auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“.
. Ein standardisiertes Zulassungsverfahren für Medikamente sei schließlich erst 1976 mit der Neufassung des Arzneimittelgesetzes eingeführt worden, erklärt der Sprecher: „Die Verantwortung für die Verabreichung der Medikamente lag beim jeweiligen Arzt. Wenn Dritte in der Vergangenheit rechtswidrig gehandelt haben sollten, dann bedauern wir das aufrichtig.“
Den Betroffenen nützt ein Bedauern allerdings wenig. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat jetzt für den Gesundheitsausschuss des Landtags einen Bericht erstellt, der einen Überblick über die Dimension der Versuche in den Kinderheimen von NRW liefern sollte. Dafür wurden 58 Heimträger um Stellungnahmen gebeten. Die Rückmeldungen liefern allerdings kein klares Bild. „Keine Akten mehr vorhanden“, heißt in vielfach. Lediglich das Franz Sales Haus, die Graf Recke Stiftung, die Bodelschwinghsche Stiftung Bethel und die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe bekennen sich offen zu ihrer Verstrickung.
In Deutschland ist die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ für die Entschädigung der Opfer von Medikamenten in Kinderheimen zuständig. Die Höhe der Beträge, die ausgezahlt werden, bleibt deutlich hinter den Erwartungen zurück. Mehr als 9000 Euro sind nicht zu erwarten. Das sei „ganz schön wenig für ein zerstörtes Leben“, sagt Pharmaziehistorikerin Wagner. Vielen Kindern sei durch die Folgen der Pharmavergiftung die Chance, etwas aus dem eigenen Leben sich zu machen, genommen worden.
Josef Neumann, sozialpolitischer Sprecher der SPD im Landtag, fordert eine neue Verantwortungskultur im Umgang mit den Medizinversuchen. „Die Gesellschaft und der Staat sind verpflichtet, sich bei den Opfern für das erlittene Leid und Unrecht zu entschuldigen. Wir dürfen die betroffenen Menschen nicht alleine lassen und niemals vergessen, welch unfassbares Leid Ihnen angetan wurde“, so der Abgeordnete aus Hagen. Die Höhe der finanziellen Hilfen müsse das erlittene, individuelle Leid der Menschen berücksichtigen.
Josef wurde als kleiner Junge ins Essener Franz Sales Haus gebracht, weil seine Mutter in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden war. Die Oma, so glaubte er, habe den Enkel seinem Schicksal überlassen. Als Josefs Heimakte vor einigen Jahren aus dem Archiv gezogen wurden, fand man einen Brief der Großmutter darin, der allerdings ungeöffnet war. „In dem Schreiben erkundigte sie sich nach den Besuchszeiten“, erzählt Josef und ringt mit den Tränen. Er glaubt, dass sein Leben vielleicht ganz anders verlaufen wäre, wenn das Heim den Brief beantwortet hätte: „Ich bin mir sicher, dass Oma mich rausgeholt hätte.“