- Michael Tabel wohnt in Köln-Nippes. Sein Sohn ist 12 Jahre alt und besucht die sechste Klasse einer Hauptschule.
- „In der Krise wird deutlich, dass die Hauptschulen völlig abgehängt sind“, sagt der selbstständige IT-Projektleiter.
- Eine Untersuchung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln erhärtet diesen Eindruck.
Der Unterricht beginnt morgens um neun Uhr in der Küche. Mathe steht auf dem Stundenplan, es geht um Bruchrechnung. Michael Tabel setzt sich zu seinem Sohn und versucht, die Aufgabe durch die Größe von Pizzastücken zu veranschaulichen. Später stehen noch Deutsch und Sport auf dem Programm. „Ich versuche, den Unterrichtsausfall so gut wie möglich auszugleichen“, sagt der 52-Jährige. „Aber ich bin kein Lehrer. Wir können nur wiederholen, was in den Büchern steht. Mehr ist nicht drin.“
Michael Tabel wohnt in Köln-Nippes. Sein Sohn, 12, besucht die sechste Klasse einer Hauptschule. „Ich musste früher auch zur Hauptschule gehen, weil ich erst zu spät die Lust am Lernen entdeckt hatte“, sagt der selbstständige IT-Projektleiter. Ob sein Sohn die Chance bekommt, sich weiterzuentwickeln, hält Tabel für fraglich. „In der Krise wird deutlich, dass die Hauptschulen völlig abgehängt sind. Was die Digitalisierung angeht, leben wir in der Steinzeit.“
Schüler in Corona-Krise zum Homeschooling gezwungen
Seit die Corona-Krise die Schüler und damit auch ihre Eltern zum Homeschooling zwingt, ist die Debatte um die digitalen Fähigkeiten der Lehrer und die technische Ausstattung von Schulen und Familien voll entbrannt. Während manche Lehrer ganz bewusst auch entgegen datenschutzrechtlicher Vorgaben Online-Unterricht über Videoplattformen wie Zoom anbieten, schicken andere am Montagmorgen E-Mails mit Dutzenden Aufgaben, die zuhause ausgedruckt werden müssen. Korrekturen sollen die Schüler in vielen Fällen anhand mitgelieferter Lösungsblätter gleich miterledigen. Manche Lehrer bemühen sich konstant um persönlichen Kontakt zu den Schülern, andere scheinen ganz abgetaucht zu sein. Die Bandbreite des Engagements reiche von „sehr groß“ bis „kaum vorhanden“, schreibt die Katholische Elternschaft Deutschland in einem Brief an das Erzbistum Köln.
„Die Krise legt Versäumnisse schonungslos offen“
„Die Krise legt schonungslos offen, was in Sachen Digitalisierung vom Land jahrelang versäumt wurde“, sagt Ute Lorenz von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in NRW. Es gebe weder Dienst-Computer noch eine funktionierende, landesweite Lernplattform. Im November 2019 hat die Landesregierung die Plattform Logineo NRW gestartet. Durchsetzen konnte sich das Programm bislang offenbar nicht. Stattdessen nutzen die Lehrer sogar innerhalb einer Schule unterschiedliche Programme für Aufgaben, Chats mit den Schülern und Online-Unterricht: Moodle, uCloud, Schulcloud NRW, Zoom oder Padlet. „Die Lehrer sind überwiegend auf sich allein gestellt“, beklagt Lorenz. „Jeder sucht sich das, was er für das Beste hält.“
Eine repräsentative Lehrerumfrage der Robert-Bosch-Stiftung ergab alarmierende Daten: Immerhin 66 Prozent der befragten Lehrkräfte sind demnach der Ansicht, dass die Schulen nicht gut vorbereitet in den Fernunterricht gestartet sind. Den größten Nachholbedarf sehen Lehrer bei ihren eigenen Kompetenzen im Umgang mit digitalen Lernformaten und der technischen Ausstattung der Schulen. Mehr als jede dritte Lehrkraft hat während der aktuellen Schulschließungen mit weniger als der Hälfte oder nur sehr wenigen ihrer Schüler regelmäßig Kontakt, obwohl 43 Prozent der Lehrkräfte den derzeitigen Arbeitsaufwand im Vergleich zu normalen Zeiten als geringer einschätzen. „Zugang zu gutem Unterricht darf auch in der aktuellen Situation kein Glücksspiel sein“, sagt Dagmar Wolf, Leiterin des Bereichs Bildung der Robert Bosch Stiftung.
Das könnte Sie auch interessieren:
Besonders schwer haben es in dieser Zeit Familien aus bildungsfernen Milieus. Eine Untersuchung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln erhärtet den Eindruck, den der Hauptschul-Vater Michael Tabel schildert: Homeschooling befördert soziale Ungleichheiten. Nur knapp 15 Prozent der Zwölfjährigen und 27 Prozent der 14-Jährigen aus Hartz-IV-Haushalten besitzen einen eigenen Rechner, den sie auch für die Schule nutzen können. Unter allen Zwölfjährigen sind es fast 28 Prozent, unter allen 14-Jährigen knapp 42 Prozent. „Um gerechte Bildungschancen zu schaffen, müssen Schüler und Lehrer gleichermaßen mit Geräten ausgestattet werden“, sagt Axel Plünnecke, Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation beim IW.
Musterklagen gegen das Land NRW für Dienst-Computer für alle Lehrer
Von solchen Bedingungen, wie sie etwa in Dänemark Alltag sind, ist man weit entfernt. „Es wird von Lehrern erwartet, dass sie ihre privaten Geräte nutzen. Gleichzeitig aber sollen sie die Richtlinien des Datenschutzes beachten“, sagt Lorenz. Ihre Gewerkschaft hat deshalb den Druck erhöht. Bereits Anfang des Jahres, noch vor Beginn der Corona-Krise, hat die GEW erste Musterklagen gegen das Land NRW eingereicht. Das Ziel: Dienst-Computer für alle Lehrer sämtlicher Schulformen.
Ein Computer allein aber wird den Lehrern kaum helfen beim Einstieg in das E-Learning. In der Lehrerausbildung hat sich in Bezug auf Digitalisierung in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas verändert. Berücksichtigt man die reinen Inhalte der akademischen Lehre, ist Online-Unterricht den Neuzugängen von der Uni ebenso fremd wie altgedienten Studienräten. Die Altersstruktur der Lehrer liest sich in der Statistik des Schulministeriums gar nicht so schlecht. Der Altersschnitt der knapp 190000 Lehrkräfte in Nordrhein-Westfalen liegt bei 45 Jahren. Und doch ist gerade jetzt in der Krise nicht nur von Lehrern älterer Semester zu hören, die sich als resistent gegen jede Form pädagogischer Innovation erweisen. „Die Krise zeigt auch, dass das digitale Lernen Teil der Ausbildung werden muss“, sagt Lorenz. „Und natürlich muss es auch während des Schuldienstes immer wieder Fortbildungen geben.“
Michael Tabel will nicht warten, bis politische Entscheider die Lage verbessern. Der engagierte Vater will jetzt eine private Sammelaktion starten, um Kinder, die kein Smartphone besitzen, mit älteren Geräten auszurüsten. Dann könnten sie sich selbst Lern-Apps herunterladen. Hauptschüler müssten endlich gleichwertig behandelt werden, fordert Tabel. Denn eines habe die Corona-Krise bewiesen: „Auch gut ausgebildete Bäcker, Kassierer, Lkw-Fahrer und Handwerker sind systemrelevant.“