Eine 83-Jährige will auf ihre Fahrerlaubnis verzichten, mit den Reaktionen aus ihrem Bekanntenkreis hätte sie nicht gerechnet.
Verantwortung am Steuer83-Jährige aus Lindlar wird für freiwilligen Verzicht auf Führerschein angefeindet
Es war stockdunkel auf der Landstraße, Nebel lag über der Fahrbahn im Sülztal. Mitten in der Nacht saß die 83-Jährige hinter dem Lenkrad und traf eine Entscheidung: Sie wird ihren Führerschein abgeben.
Am 2. Januar hatte sie die Fahrerlaubnis auf den Tag genau seit 66 Jahren in der Tasche. Das sei ein doch guter Zeitpunkt für diesen Schritt, berichtet sie. Die Entscheidung liegt nun einige Wochen zurück, doch in ihrem Freundeskreis ist der Schritt immer noch Gesprächsthema.
Anfeindungen selbst von guten Bekannten
„Mit diesen Reaktionen hätte ich nicht gerechnet“, schildert die 83-jährige Lindlarerin. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Denn: „Selbst gute Bekannte feinden mich an“, begründet sie den Wunsch nach Anonymität.
Die Möglichkeit, freiwillig auf den Führerschein zu verzichten, gibt es seit vielen Jahren. Auch in Oberberg verzichten jedes Jahr Menschen im Alter freiwillig auf die Fahrerlaubnis.
Spätestens seit der Diskussion um eine europäische Verkehrsrichtlinie, bei der Autofahrer ab 70 Jahren alle fünf Jahre den Führerschein auffrischen müssten, hat sich die Diskussion aufgeheizt.
Beratungen in Brüssel zu Fahrtests für Senioren
Die Beratungen in Brüssel und Straßburg sind längst noch nicht abgeschlossen. Jüngst legten die EU-Mitgliedsstaaten ihre eigenen Entwürfe vor, die nun eine Selbstauskunft der Seniorinnen und Senioren vorsieht.
Als vor wenigen Wochen die Forderung einer EU-Abgeordneten die Runde machte, schlug das hohe Wellen: Karima Delli von den französischen Grünen hatte verpflichtende Gesundheitstest für alle Autofahrer ab 60 Jahren gefordert.
Darauf reagierte sogar Oberbergs Senioren-Union mit einer Mitteilung und bezeichnete den Vorstoß als „ideologisch grün-gefärbten und autofeindlichen Entwurf“. Für die Lindlarerin hingegen ist die Entscheidung ohne diesen Hintergrund gefallen.
An der Gesundheit liegt es ebenfalls nicht: „Ich schneide im Garten noch die Hecken und Büsche selber“, berichtet sie. Doch die Verantwortung hinter dem Steuer will sie lieber abgeben.
Warum die Lindlarerin auf den Führerschein verzichten will
„Man hat nicht mehr so den Überblick und ich weiß nicht, ob ich mich auf meine Reaktionen immer verlassen kann“, berichtet sie. Auch, wenn sie langsam fahre, sei das für sie purer Stress. An einen Unfall kann sie sich in ihrem Autofahrerleben nicht erinnern und das solle so bleiben.
Zahlen der Unfallstatistik im Kreis zufolge sind Senioren sichere Fahrer und „unterdurchschnittlich an Unfällen mit Verletzten und Toten beteiligt“, so Michael Tietze von der Kreispolizei (siehe unten).
Ihr Auto will die 83-Jährige abschaffen. Am liebsten will sie es an eines der Kinder oder Enkelkinder verschenken, doch der große Fast-Oldtimer von Anfang der 2000er schluckt denen zu viel Sprit.
2023 verzichteten 35 Senioren in Oberberg freiwillig auf den Führerschein
„Allein von dem Geld, das ich an Versicherung und Unterhalt spare, kann ich lange Taxi fahren“, schildert sie ihre Rechnung.,Außerdem gebe es den Lindlarer Bürgerbus und den ehrenamtlichen Fahrdienst von Lindlar-mobil, der Fahrten auf Bestellung anbietet.
Senioren, die in Oberberg freiwillig auf den Führerschein verzichten und ihn beim Kreis abgeben, erhalten auf Wunsch das Aktiv-60-Ticket der Ovag ein Jahr kostenlos. Damit können sie innerhalb von zwei Kommunen Bus fahren. Abends und an Wochenenden gilt das Ticket im ganzen Verkehrsverbund Rhein-Sieg und auch eine Begleitperson ist inklusive.
35 Seniorinnen und Senioren haben das Angebot dieses Jahr angenommen, so der Kreis. Deutschlandweit wollen die Städte und Gemeinde nun einen Schritt weiter gehen und fordern für Führerschein-Verzichtende das Deutschlandticket. Das fordern auch weitere Interessensverbände.
Städte und Gemeinden fordern Deutschlandticket für Senioren
„Ein kostenloses Deutschlandticket für eine gewisse Zeit erleichtert insbesondere den älteren Personen, auf das Auto zu verzichten“, sagte dazu Hauptgeschäftsführer Georg von Landsberg den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Als Voraussetzung nannte von Landsberg allerdings auch ein ausreichendes Angebot an Verbindungen mit Bus und Bahn.
Zurück nach Lindlar. Die 83-Jährige ist viel unterwegs. Jüngst machte sie einen Ausflug mit Freunden an den Rhein. Doch als beim Essen im Ausflugslokal das Thema Führerscheinverzicht aufkam, da sei „die Stimmung regelrecht umgeschlagen“, erinnert sie sich.
Alternativen zum Auto in Oberberg
„Die haben alle auf mich eingeredet, wie ich das freiwillig machen könne“. Klar sei: Die aktuelle Diskussion aus Brüssel habe den freiwilligen Führerscheinverzicht zu einem sensiblen Thema werden lassen. „Manche Leute werden da richtig fuchsig“, berichtet die Lindlarerin. „Ich sei doch noch fit, das sei unnötig“, berichtet sie von Argumenten in ihrem Bekanntenkreis. Ob sie jetzt erwarte, immer mitgenommen zu werden?
Zu ihrer Entscheidung will die 83-Jährige stehen. Die Lindlarerin sucht gerade einen Abnehmer für das Auto. Zuspruch gab es von den beiden Söhnen. „Die sagen: Mama, das machst du gut“. Und auch die ersten Enkel haben einen Führerschein und „haben schon angeboten, dass sie mich mal fahren werden.“
Sind Senioren sichere Autofahrer?
Erfahrung am Steuer und Gelassenheit statt jugendlichem Übermut und Bleifuß. Die Diskussion um Tauglichkeitstests für Führerscheininhaber im Alter wird teilweise emotional geführt. Die Experten bei der Kreispolizei Oberberg und der deutschen Versicherungswirtschaft haben da differenziertere Antworten.
Zusammengefasst: Es gibt keine generelle Aussage. Sichere Autofahrer sind Senioren in jedem Fall, wenn man die Auswertung der Verunglücktenhäufigkeitszahl zu Rate zieht. Die Polizei in Oberberg errechnet diesen Wert, um vergleichbare Zahlen zu haben.
Unfallzahlen in Oberbergs deutlich geringer
Der Wert gibt an, wie häufig Menschen „bezogen auf 100.000 Einwohner bei einem Verkehrsunfall leichte, schwere oder auch tödliche Verletzungen erlitten haben“, erklärt Michael Tietze von der Kreispolizei. Die Zahl sei eine Summenzahl aus den aktiv Verkehrsteilnehmenden sowie aus den passiv Mitfahrenden.
210 ist die sogenannte Verunglücktenhäufigkeitszahl der Polizei für Senioren im Kreis. Und die ist im Vergleich mit anderen Altersgruppen niedrig. Der Durchschnitt aller Verkehrsteilnehmer im Oberbergischen Kreis liegt bei 381. Noch deutlicher ist der Wert im Vergleich mit jungen Fahrern zwischen 18 und 24 Jahren. Hier liegt der Wert bei 928.
Junge Menschen verunglücken meist im Auto oder auf dem Motorrad
Junge Fahrer verunglücken in Oberberg meist bei Auto- und Motorradunfällen. Im Vergleich zu Senioren gebe es da „signifikante Unterschiede“, so Tietze. So verunglückten Senioren etwa zur Hälfte mit dem Pkw, aber oft auch als Fußgänger, auf dem Fahrrad oder dem Pedelec. Informationen zu Unfällen im Kreis im Jahr 2022 gibt es auch hier.
Die Zahlen aus dem Kreis decken sich mit bundesweiten Werten. Laut dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat liegt der Anteil von Menschen von 65 oder mehr Jahren an der Gesamtbevölkerung derzeit bei etwa 22 Prozent.
Aber nur etwa 14,5 Prozent aller Unfallbeteiligten seien bei Unfällen mit Personenschaden dieser Altersgruppe zuzuordnen. Diese Argumentationslinie ordnet Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der deutschen Versicherer, ein.
Unfallzahlen bei Senioren hoch, wenn man die Kilometerfahrleistung berücksichtigt
Er berichtete der Deutschen Presseagentur gegenüber, dass Seniorinnen und Senioren in absoluten Zahlen zwar kein überhöhtes Unfallrisiko darstellten, gibt aber zu bedenken, dass sie aber viel weniger Auto fahren.
Auf die Kilometerfahrleistung bezogen sei das Unfallrisiko von Menschen über 75 Jahren in bestimmten Aspekten vergleichbar mit der Hochrisikogruppe der sehr jungen Fahrerinnen und Fahrer.
Wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervorgeht, haben ältere Autofahrer auch häufiger die Hauptschuld als jüngere, wenn sie an Unfällen mit Personenschaden beteiligt sind. Der Statistik zufolge waren Menschen ab 65 Jahren vergangenes Jahr in mehr als zwei Dritteln dieser Fälle (69 Prozent) die Hauptverursachenden.