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RechtspopulismusWie rechts sind die Evangelikalen in Oberberg?

Lesezeit 7 Minuten
Zwei Männer in einer großen leeren Kirche.

Von der AfD halten die Freikirchler Jakob Löwen (l.) und Boris Harms persönlich wenig. Für eine Wahlempfehlung oder Warnung sei die Kirche aber nicht der richtige Ort.

Ein früheres Mitglied der Bernberger Evangeliumschristen glaubt, dass die Erfolge der AfD in einigen Wahlbezirken religiös begründet sind.

Die 62 Prozent in Waldbröl-Maibuche fallen besonders ins Auge. Aber auch in Gummersbach-Bernberg hat die AfD bei der Europawahl abgeräumt und in einem der beiden Wahlbezirke mit 49,7 Prozent alle anderen Parteien hinter sich gelassen. Beides sind Wohngegenden, in denen sich viele russlanddeutsche Zuwanderer niedergelassen haben. So wie die AfD-Hochburgen Bergneustadt-Hackenberg und Marienheide-Griemeringhausen. Viele der Einwohner dort sind Mitglieder von evangelikalen Freikirchen. Zufall?

Samuel Gönner (34) glaubt das nicht. Er war von klein auf selbst Mitglied der Bernberger Evangeliumschristen-Gemeinde (ECGB). Heute steht er ihr kritisch gegenüber, nennt sich „Aussteiger“ und lebt in Köln. Das Europawahlergebnis auf dem Bernberg hat ihn erschüttert, aber nicht überrascht.

„Homosexualität galt als krankhaft“

Unmittelbar danach hat Gönner seine Gedanken in einem Leserbrief festgehalten. „Im Selbstverständnis, allein im Besitz einer universalen Wahrheit zu sein, werden die Mitglieder evangelikaler Glaubensgemeinschaften zu einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Politik, Wissenschaft sowie dem medial veröffentlichten Diskurs hingeführt“, schreibt Gönner. „Von klein auf wurde mir von kreationistischen Predigern beispielsweise beigebracht, dass die Evolutionsforschung eine antichristliche Verschwörung betreibt und die Erde in Wirklichkeit nur 10 000 Jahre alt ist.“ Gönner erinnert sich: „Homosexualität galt als krankhaft, und vor Freundschaften mit nicht- oder andersgläubigen Menschen wurde gewarnt, und diese nur mit dem Ziel akzeptiert, diese für den ,wahren Glauben' zu gewinnen.“

Gönners These: „Eine solche Wagenburg-Mentalität macht es Verführern leicht, mit vermeintlich einfachen Antworten Misstrauen zu sähen und öffentliche Institutionen zu diskreditieren. Der Klimawandel: eine Lüge! Das Asylrecht: ein Werkzeug zum Bevölkerungsaustausch durch globale Eliten! Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.“

Die Wagenburg-Mentalität macht es Verführern leicht, mit vermeintlich einfachen Antworten Misstrauen zu sähen und öffentliche Institutionen zu diskreditieren.
Samuel Gönner, früheres Mitglied der ECGB

Ergibt sich aus der radikal-bibeltreuen Religion eine automatische Wahlempfehlung für die AfD? Zwei führende Vertreter der Bernberger Evangeliumschristen sind zu einem Gespräch über diese Frage bereit und laden zu einem Treffen ins Gemeindezentrum ein. Boris Harms (39) ist einer von vier Pastoren. Jakob Löwen (59) gehört seit der Gründung Ende der 1970er Jahre zu der freikirchlichen Gemeinde. Seit 25 Jahren sitzt Löwen für die CDU im Gummersbacher Stadtrat.

Beide Bernberger sagen, dass sie das Wahlergebnis sehr überrascht habe. Löwen weist darauf hin, dass die Wahlbeteiligung im Bezirk des Alten- und Jugendzentrums mit 32,8 Prozent schwach war und die absolute Zahl der AfD-Wähler nur 76 betrug. Dennoch sei das Ergebnis für ihn „kein Ruhekissen“, er wolle sich dafür einsetzen, dass die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl wieder höher ausfällt. Pastor Harms versichert, dass er im Freundeskreis keinen Hehl daraus mache, dass er die AfD ablehnt.

Bernberger Gemeinde will unpolitisch sein

Sie sind sich aber ebenso einig, dass politische Fragen in der Kirche keinen Platz haben. Die Kanzel diene der Vermittlung von christlichen Werten. Diese seien vor allem die Nächstenliebe, aber auch die Offenheit gegenüber anderen Kulturen, wie sie sich auch in der Betreuung von Flüchtlingen beweise. Welche politischen Konsequenzen die Gemeindemitglieder aus dieser Lehre ziehen, bleibe ihrer Eigenverantwortung überlassen.

Auf eine Warnung vor der AfD verzichten die ECGB-Sprecher und unterscheiden sich darin von der Haltung der katholischen und evangelischen Amtskirchen, die eine Unvereinbarkeit festgestellt haben. Für Gemeindekritiker Gönner ist das bitter: Es treffe ihn hart, „dass die menschenverachtenden Haltungen und Strömungen in der AfD bei denjenigen keine heftige Gegenwehr erzeugen, die sich in der Nachfolge von Jesus Christus sehen“, schreibt er in seinem Brief.

Abkehr von der Gummersbacher Gemeinde

Gönner betont, dass er keinen Groll hege, auch wenn die Warnung, dass ein Verlassen der Glaubensgemeinschaft das Seelenheil gefährde, nicht spurlos an ihm vorübergegangen ist. Seine Kritik sei allein von der Sorge getrieben, dass viele Freikirchen, und wohlgemerkt nicht nur die ECGB, zu einer Spaltung der Gesellschaft beitragen. Seine Abkehr von der Heimatgemeinde sei Konsequenz seines Studiums der Politikwissenschaft in Berlin und Bonn. Ihm habe es zu denken gegeben, dass er zu einer Gemeinschaft gehörte, die den Glauben gegen die Wissenschaft in Stellung bringt.

Pastor Boris Harms will nicht verhehlen, dass er mit seiner Lehre oft im Widerspruch zur modernen Gesellschaft steht. „Wir predigen, was in der Bibel steht, auch hinsichtlich der Schöpfung, das ist für uns ein wichtiger Wert.“ Jakob Löwen ergänzt: „Die Bibel ist Gottes Wort, und es gibt nur eine Schöpfungsgeschichte. Und darin geht es um einen Mann und eine Frau.“

Gummersbacher Stadtratsmitglied distanziert sich von der AfD

Was Jakob Löwen als erstes einfällt, wenn man ihn zu seiner Haltung zur AfD befragt: „Reden und Tun fallen bei denen auseinander.“ Die Rechtspopulisten würden in ihrem Wahlprogramm für die traditionelle Ehe eintreten, hätten aber eine homosexuell lebende Vorsitzende. „Wir verurteilen die gleichgeschlechtliche Ehe nicht, aber wollen ihr nicht den gleichen Rang einräumen oder sie gar in den Mittelpunkt der Gesellschaft stellen.“

Aber warum wird die AfD gewählt? Löwen spricht vom „subjektiven Gefühl“ der Leute, dass es bei der Migration und bei der Verteilung von Sozialleistungen nicht gerecht zugeht. „Ich höre oft: Wir zahlen es euch heim.“ Er glaubt, dass in der AfD „kein guter Geist“ herrscht, von einer Brandmauer gegen Rechtsaußen hält er dennoch wenig: „Man muss in der Realität leben.“

Der eigentliche Grund für die Popularität der AfD sei eine russische Propaganda, die diese als „einzige Partei mit einem klaren Blick“ verkläre. Viele Russlanddeutsche, die in den 90er Jahren gekommen seien, hätten sich ihre Medien mitgebracht, sagt Jakob Löwen. Er habe nicht den Eindruck, dass es unter den älteren Einwanderern viele AfD-Sympathisanten gebe. Und in der Gemeinde seien sie sicher nicht so stark vertreten wie im gesamten Bernberg. Pastor Harms nickt: „Das nehme ich auch so wahr.“


Freikirchen in Oberberg

Die Evangeliumschristen-Gemeinde Bernberg (ECGB) geht nach eigenen Angaben auf einige russlanddeutsche Familien zurück, die sich 1979 in Gummersbach niedergelassen haben. „Trotz der eigenen Herausforderungen mit Familie und dem eigenen Hausbau wurde das Gemeindehaus von den damals ca. 200 Mitgliedern komplett schuldenfrei erbaut“, heißt es auf der Homepage der Gemeinde. Heute hat die ECGB rund 600 Mitglieder, der Gottesdienstraum fasst bis zu 1000 Besucher. Die Zahl der Mitglieder wurde irgendwann so groß, dass neue freikirchliche Gemeinden gegründet wurden. Dazu gehört die „Kirche für Oberberg“, die von Pastor Harry Löwen als angeführt wird – ein Bruder des Bernbergers Jakob Löwen.

Die WDR5-Radio-Serie „Glaube, Hoffnung, Liebe“, die sich in vier Teilen der Geschichte der Stadt Gummersbach widmet und erst jüngst veröffentlicht wurde, räumt der ECGB in ihrer zweiten Folge eine zentrale Rolle ein als Beispiel für eine gelungene Zuwandererintegration.

In Oberberg trafen die russlanddeutschen Zuwanderer in den 70er Jahren auf eine freikirchliche Tradition, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die Evangelisch-freikirchliche Gemeinde Derschlag wurde beispielsweise bereits 1882 gegründet. Frank-Michael Rommert schreibt in seinem Buch „Evangelisch in Oberberg“ (2007): „Wie kaum eine andere Region in Deutschland bildet Oberberg mit dem gesamten Bergischen Land, dem Wuppertaler Raum, dem Siegerland sowie dem Raum um Dillenburg und Wetzlar einen ,bible belt' in Deutschland. Geprägt vom Pietismus und der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert, ist hier die Dichte an freikirchlichen Gemeinden und christlichen freien Werken größer als anderswo, vergleichbar noch mit Gebieten mit ähnlicher Tradition in Württemberg.“

Die theologische Vielfalt ist entsprechend groß. Heute gibt es mehr als 70 freikirchliche Gemeinden im Oberbergischen Kreis. Rommert unterscheidet zwischen „klassischen freikirchlichen Gemeinden“ einerseits, die in den bundesweiten Verbänden organisiert sind, und neueren Gründungen wie Mennoniten, Pfingstgemeinden, neuapostolischen Gemeinden und Evangeliumschristen andererseits.

Das Freikirchen-Forum Oberberg wurde 2021 gegründet, um ein Netzwerk zu bilden und den einzelnen Gemeinden eine Stimme zu geben, Anlass gab damals die Diskussion über die Corona-Beschränkungen. 32 Gemeinden gehörten zu den Gründungsmitgliedern.