Vor 71 JahrenTyphus-Epidemie sucht Waldbröl heim

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In vielen Wohnungen herrschte nach dem Krieg drangvolle Enge.

  1. Im August 1949 erkrankte die erste Person in Waldbröl an Typhus. Elf Menschen starben, 130 waren infiziert.
  2. Als Ursprung der Krankheit wurde in Waldbröl der Brunnen einer Gerberei ausgemacht.
  3. Der Gummersbacher Autor Volker Dick greift in Zeiten der Corona-Krise mit einem mulmigen Gefühl zu seinen Typhus-Recherchen.

Waldbröl – Die Schulen geschlossen, die Schaufenster finster. Der Vieh- und Krammarkt ist abgesagt – und die Menschen gehen sich aus dem Weg, halten Abstand, meiden den Kontakt. Doch vom Coronavirus wird in Waldbröl noch Jahrzehnte lang niemand sprechen: Am 28. August 1949 kommt die erste Frau ins Krankenhaus – Typhus, so der Verdacht. Und der bewahrheitet sich rasch: Elf Tote und mehr als 130 Patienten sind bis in den Oktober hinein die traurige Bilanz dieser Epidemie. Ein Bäckerehepaar etwa trauert um seine drei Töchter.

Gekommen ist der Tod mit dem Trinkwasser – und in Waldbröl wütet die Infektionskrankheit weitaus schlimmer als zum Beispiel in Wipperfürth in den Jahren von 1947 bis 1951. Oder bereits zuvor, 1945, in Osberghausen: Dort erkranken 65 Menschen, sieben überleben die Infektion nicht. „Die Angst war damals ebenso groß wie heute“, erinnert sich Reinhard Grüber. Er ist 80 Jahre alt, ein Ur-Waldbröler, sitzt für die FDP in Waldbröls Stadtrat und ist Ehrenvorsitzender des Verkehrs- und Verschönerungsvereins.

Brunnen an Gerberei war die Quelle

1949 lebt die Familie Grüber an der Kaiserstraße 56. „Im Haus der Nachbarn starb der Sohn Hartwig“, sagt Grüber. Mit seinen 17 Jahren ist Hartwig Schlösser der jüngste der Toten. Grüber weiß auch noch, dass seine Eltern Otto und Helene in jenen Tagen oft geweint haben – aus Sorge um die eigenen drei Kinder. „Nachrichten über diese furchtbare Krankheit verbreiteten sich von Haus zu Haus – und wir gingen nicht mehr vor die Tür, wenn wir es nicht mussten. Andere Mittel hatten wir nicht.“

Als Quelle der Epidemie machen die Behörden den Brunnen an einer Gerberei aus, er befindet sich in der Nähe der Kläranlage des Krankenhauses und der Bröl. Der kleine Fluss führt Abwasser. „Nur unter besonderen Auflagen durfte dort Wasser entnommen werden“, schildert der Gummersbacher Autor und Journalist Volker Dick (55), der die Geschichte der Waldbröler Epidemie aufgearbeitet hat.

Die Epidemie und ihre Folgen

In den Jahren von 1955 bis 1957 beschäftigen die Waldbröler Typhus-Epidemie und ihr Auslöser schließlich auch die Gerichte: Von der Epidemie Betroffene fordern Wiedergutmachung für erlittene Schäden und wollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Sie gründen eine Interessengemeinschaft. Denn auch nach der Epidemie meiden viele Oberberger die Stadt, sie kaufen lange Zeit lieber woanders ein.

Vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe findet der Musterprozess am 7. Februar 1957 mit einem Abfindungsvergleich zwischen der Interessengemeinschaft und dem Oberbergischen Kreis über fast 90 000 D-Mark ein Ende. Der Erfolg geht vor allem auf das Konto einer Waldbrölerin. Die zuvor beim Bonner Landgericht eingereichten Klagen werden zurückgezogen.

Die Verantwortung für die Epidemie bürdet die Justiz aber nur einem auf: dem damaligen Leiter des Kreisgesundheitsamtes. Ihm sei bekannt gewesen, so steht es in den Akten, dass im Wasser des Gerbereibrunnens kein Chlor vorhanden gewesen sei. Zwar habe er dies der Gemeinde Waldbröl auch gemeldet, dennoch habe er seine Amtspflichten 1949 fahrlässig verletzt, urteilte das Bonner Landgericht bereits am 30. Juni 1955. Denn jener Hinweis habe nicht genügt, der Amtsleiter hätte zudem „energischer einschreiten“ müssen. (höh)

Dafür hat er tief in den Archiven der Marktstadt und des Oberbergischen Kreises gegraben. Lebten 1939 in Waldbröl, zu jener Zeit noch eine Gemeinde, etwa 7800 Menschen, so sind es im Herbst 1949 mehr als 11 000 – Waldbröler, Flüchtlinge, Vertriebene und Evakuierte ebenso wie Soldaten der belgischen Streitkräfte als Besatzer. Sie alle mit frischem Wasser zu versorgen, das stellt die Waldbröler Wasserleitungsgenossenschaft vor erhebliche Probleme.

Dick: „Zeitweise sitzen einige Haushalte völlig auf dem Trockenen. Und um dieser Not zu begegnen, wird Wasser aus allen möglichen Quellen geschöpft.“ Um Keimen vorzubeugen, hatte bereits die Militärregierung angeordnet, dass unbedingt Chlor dem Wasser zugesetzt werden muss. Doch am Brunnen jener Gerberei gerät das offenbar in Vergessenheit: Der Typhus greift um sich.

Ausnahmezustand in Waldbröl

„Vor allem Frauen starben“, berichtet Hans Pönitz, heute ebenfalls 80 Jahre alt. Seine 15 Jahre alte Schwester Gisela erkrankt, wird aber wieder gesund. Die heute 85-Jährige lebt in Wiehl. „Einige ihrer Klassenkameradinnen sind auch krank geworden“, sagt der frühere Immobilienmakler. Vater Hans ist damals Verwaltungsdirektor des Waldbröler Kreiskrankenhauses – ein unschätzbares Privileg, wie der Sohn heute längst weiß: „Uns ging es gut, Gisela erholte sich – was natürlich auch daran lag, dass wir engen Kontakt zu vielen Ärzten hatten.“

Dem Journalisten Volker Dick hat die Schwester indes erzählt, dass sie selbst ihren 15. Geburtstag auf der Isolierstation verbringen musste, jeder Besuch war verboten. Ihr Geschenk, ein Fahrrad, sah sie dennoch: „Unser Vater hat es vor dem Fenster des Krankenhauses hin- und hergeschoben, so konnte ich es wenigstens sehen.“ Drei Wochen liegt sie im Krankenhaus – bei hohem Fieber.

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Anfang September 1949 verhängt das Gesundheitsamt des Oberbergischen Kreises wegen der Infektionsgefahr eine Art Ausnahmezustand über Waldbröl. Reinhard Grüber: „Die Stadt war nahezu abgeriegelt.“ Schulen, Kneipen und Gaststätten schließen, der Markt fällt aus, der Männergesangverein darf nicht zu einem Auftritt nach Gummersbach reisen. Die Angst vor den todbringenden Bakterien geht um. „Immer wieder wurden unsere Stuhlproben getestet“, erinnert sich Hans Pönitz. „Und wir durften niemandem die Hand reichen.“

Waldbröls Bürgermeister kritisiert das Gesundheitsamt

Doch nicht allen ist die tödliche Gefahr anscheinend bewusst. Das trifft auch für Wilhelm Wirges, Bürgermeister der Stadt und als Gastwirt von den Restriktionen hart getroffen, zu: „Die Anordnungen des Gesundheitsamtes wurden befremdlicherweise vom Bürgermeister Herrn Gastwirt Wirges ohne jedes Verständnis für den Ernst der Seuche kritisiert und grösstenteils für überflüssig erachtet“, heißt es etwa am 8. September 1949 in einem Schreiben an den Oberkreisdirektor Friedrich-Wilhelm Goldenbogen (1914 bis 1982).

Das sei heute in Zeiten der Corona-Krise zum Glück ganz anders, sagt der Journalist Volker Dick. „Das Coronavirus hat jeder sofort ernst genommen.“ Mit durchaus mulmigem Gefühl habe er seine Typhus-Recherchen gerade noch mal zur Hand genommen, verrät der Gummersbacher. „Und tatsächlich kann man vieles von damals jetzt wiedererkennen.“

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