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„Mein ältester Schatz“Sonja Puschmann bewahrt eine besondere Pistolenkugel auf

Lesezeit 4 Minuten

In einem Schmuckkästchen bewahren Regina Stefer (l.) und Sonja Puschmann (r.) die verformte Kugel auf. Fotos: Weitzdörfer

Der nächste Schatz wird schon fast 80 Jahre aufbewahrt.

Geschichte und Erinnerung – manchmal ist das Eine vom Anderen nur schwer zu trennen. Und dann wiederum vermischt es sich. Insofern verwundert es nicht, wenn es von einem bald 80 Jahre zurückliegenden Ereignis mehrere Versionen gibt. So ist es auch in der Familie von Sonja Puschmann.

Die Wipperfürtherin kennt die Geschichte ihres Opas aus der frühen Kindheit. „Es war der 20. Juni 1945, der Zweite Weltkrieg gerade erst ein paar Tage offiziell beendet, als mein Großvater, damals 16 Jahre alt, von einer Pistolenkugel in den Kopf getroffen wurde“, erzählt sie. Laut den Berichten des Großvaters war der Junge mit seinen Eltern auf dem Hof im ländlichen Lindlar, als sie in den frühen Morgenstunden von zwei unbekannten Männern überfallen worden seien. Mit dem Milchwagen, damals noch ein Pferdefuhrwerk, ist der Großvater dann nach Lindlar ins Herz-Jesu-Krankenhaus gebracht worden. „Dort war er vom 20. Juni bis zum 6. Juli 1945 – darüber hat er sich viele Jahre später eine Bescheinigung ausstellen lassen“, sagt Sonja Puschmann.

Erzählung bis zum Tode weitergegeben

Neben der Erzählung und der Erinnerung, die der Großvater bis zu seinem Tod im April 2018 an die Familie weitergegeben hat, gibt es indes noch einen Gegenstand, der bis heute in der Familie von Sonja Puschmann aufbewahrt wird. Die verformte Kugel, die den Kopf ihres Großvaters durchschlagen hatte. „Sie lag immer sichtbar bei uns im Wohnzimmerschrank“, erinnert sich Regina Stefer, Sonja Puschmanns Mutter. Für sie und ihren Bruder Martin Schmitz sei die Kugel „immer präsent“ gewesen. „Das war einfach so“, sagt Regina Stefer.

Heute, nach dem Tod des Vaters sei sie zwar immer noch da, aber sie liege nicht mehr so offen im Schrank. „Ich bewahre sie weiter auf, weil sie für meinen Vater so wichtig war. Für mich ist das ein echter Schatz, weil sie die Kugel ist, die meinen Vater nicht getötet hat, obwohl sie das tun sollte“, sagt Regina Stefer. Auch die Enkelkinder würden heute ab und zu danach fragen. Dass eine solche Geschichte nicht spurlos an einem vorübergehe, zeige sich auch daran, dass der Vater gerade im Alter immer wieder darüber gesprochen habe. „Ich hatte einen Kopfdurchschuss, das hat er immer wieder gesagt“, sagt Stefer.

Erinnerungen gehen auseinander

Doch warum ist es eigentlich zu dieser Situation gekommen? Hier geht es dann auch in der Familie auseinander. Während Sonja Puschmann die Geschichte so gehört hat, dass es einfach „zwei unbekannte Männer“ gewesen seien, „Russen in zivil“, erinnert sich Martin Schmitz hingegen so an die Erzählungen seines Vaters, dass es sich um „ehemalige Zwangsarbeiter auf Plünderungszug“ gehandelt habe. Auch über den Ablauf der Geschehnisse gehen die Erinnerungen auseinander.

Während Sonja Puschmann berichtet, dass ihr Opa im Keller angeschossen wurde, sagt Martin Schmitz, dass es in der Stube passiert sei und der angeschossene Junge erst dann in den Keller gebracht worden sei. „Für mich ist die Kugel auch weniger ein Schatz als vielmehr ein Beweisstück“, sagt er. Beides kann natürlich so geschehen sein, alle am Geschehnis beteiligten Personen leben nicht mehr – und genaugenommen spielt es auch keine Rolle mehr. Viel wichtiger ist da doch, dass der damals 16-Jährige überlebt hat – und das ohne Folgeschäden. Von zwei Narben an der Nase und am Hinterkopf, der Ein- und Austrittswunde, einmal abgesehen. Ihr Großvater hat den elterlichen Hof übernommen und ihn bis zur Rente weitergeführt. „Wir waren immer wieder in den Ferien dort und haben den Erzählungen von früher gelauscht.

Darunter auch die Geschichte mit der Kugel, die er uns dann gezeigt hat“, sagt Sonja Puschmann. In ihrer Erinnerung hat der Großvater die Geschichte aber nie brutal erzählt, eher kindgerecht, möchte man sagen. Für sie ist auch der eigentliche Schatz nicht die Kugel, sondern die Erinnerung. „Auch durch die jetzige Beschäftigung damit ist wieder viel wach geworden. Etwa, dass mein Opa immer betont hat, dass Freiheit und Frieden die wertvollsten Güter sind, die es zu bewahren gilt“, sagt Sonja Puschmann.


Mein ältester Schatz

Mit der Volksbank Oberberg haben wir Sie bei unserem Sommerwettbewerb 2024 nach ihren persönlichen Schätzen gefragt. Aus mehr als 170 Bewerbungen hat unsere Redaktion 20 Teilnehmer ausgewählt, deren Geschichte wir in der Zeitung erzählen. Nach den Ferien bestimmt eine Jury, welche Teilnehmer es auf die drei vorderen Plätze schaffen und welche auf die Ränge vier bis 20. Am 8. Oktober werden die Finalisten in der Volksbank in Wiehl geehrt. (r)