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„Über uns flogen die Raketen hin und her“Ukraine-Geflüchtete in Gladbach erzählen

Lesezeit 6 Minuten

Zweimal mussten sie wegen Kriegen alles aufgeben: 2013 in Syrien, jetzt in der Ukraine. Das Fotoalbum ist alles, was Viktoria, Akseniia, Liubana, Salim und Ali Arif (v.l.) mitnehmen konnten. Viktoria wird heute 50, aber zum Feiern ist niemandem zu Mute.

Bergisch Gladbach – „Dieses orangefarbene Licht, wenn die Einschläge näherkommen, werde ich nie vergessen“, sagt Jana Kotelewets. Die 28-jährige Latein- und Englischdozentin aus Charkiw greift zu ihrem Handy, zeigt ein Bild. „Das war der Supermarkt ein paar Ecken weiter.“ Auf dem Bild sind nur noch ausgebrannte Trümmer zu sehen.

„Das war der Supermarkt um die Ecke“: Jana Kotelewets bangt um Tante und Großmutter, die noch daheim in Charkiw sind.

„Und das waren die Schlangen, so haben wir für Lebensmittel angestanden“, sagt sie und zeigt ein anderes Bild mit einer langen Menschenschlange in der Stadt unweit der russischen Grenze. „Am Ende habe ich nur noch geweint und geschrien, wenn es wieder losging mit den Angriffen“, sagt sie. „Wir haben im Flur gelebt, weil der in der Mitte der Wohnung lag. Meine Mutter hat gesagt, die Zimmer drum herum werden die Bomben abhalten. Hier sind wir sicher.“

42 Geflüchtete sind in Hermann-Löns-Halle zum Wochenende untergekommen

Sicherheit? Das muss die 28-Jährige erst langsam wieder lernen. Nach tagelanger Flucht ist sie am Wochenende eine der ersten Geflüchteten aus der Ukraine gewesen, die in der neu eingerichteten Aufnahmestelle der Stadt Bergisch Gladbach in der Hermann-Löns-Halle untergekommen ist.

Mehr als 2300 Kilometer liegen zwischen der ukrainischen Millionenstadt Charkiw unweit der russischen Grenze und Bergisch Gladbach.

Jana kann es noch immer nicht fassen: Sie sitzt an einem Tisch, in einem Raum mit Licht, Rotkreuzhelfer bringen Kaffee. „Hier sind alle so freundlich. Ich hätte das nicht für möglich gehalten“, sagt sie auf Englisch. Und zuckt doch noch immer zusammen, wenn sie vom nicht weit entfernten Köln/Bonner Flughafen Maschinen starten hört. Aber sie möchte erzählen, von ihrer Flucht, ihre Geschichte, wie sie zurzeit Millionen ihrer Landsleute durchmachen.

So wie Familie Arif ein paar Tische weiter. Innerhalb einer Viertelstunde hat das Apothekerpaar mit seinen vier Kindern sein schmuckes Häuschen in einem Dorf bei Lugansk zurückgelassen, als eine Rakete direkt nebenan einschlug und die Fenster barsten. Ein kleines Fotoalbum ist das Einzige, was sie neben etwas Kleidung und den Ausweispapieren noch zusammenraffen konnten. Darin: Bilder aus dem Leben, in dem die Familie schon zum zweiten Mal alles durch Krieg verloren hat.

Erst in Syrien, dann in der Ukraine alles verloren

Im Pharmaziestudium in der Ukraine hatten sich die Ukrainerin Viktoria und der Syrer Ali in den 90er Jahren kennengelernt, waren ein Paar geworden. Die ersten beiden Kinder kamen in der Ukraine zur Welt, die beiden anderen, nachdem sie 1999 nach Syrien gezogen waren, sich eine Apotheke aufgebaut hatten – bis sie 2013 zwischen die Fronten des Syrien-Kriegs gerieten. „Über uns flogen die Raketen hin und her“, übersetzt die Dolmetscherin des DRK, Iulia Aroutiounian beim Gespräch in der Erstaufnahme. „Wir haben alle in einem Zimmer geschlafen, damit wir – wenn es uns trifft – alle zusammen sterben“, erinnert sich Ali.

Neue Erstaufnahme und Hilfsmöglichkeiten

Ab heute soll die Notunterkunft für Geflüchtete an der Hermann-Löns-Straße 102 die Funktion als Erstanlaufstelle für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine übernehmen und damit die bisherige Erstaufnahme am Schulzentrum Saaler Mühle ablösen.

Wer helfen will, Spenden oder Wohnraum zur Verfügung stellen möchte, sollte laut Stadt aber nicht die Unterkunft direkt ansteuern, sondern unbedingt die zentrale Kontaktstelle für Belange der Ukraine-Hilfe der Stadt Bergisch Gladbach: (0 22 02) 14-29 29 und 14-29 28, E-Mail: ukraine@stadt-gl.de.

Wie durch ein Wunder gelang der Familie die Flucht in die ukrainische Heimat der Mutter. Nur ein Jahr später flogen auch dort die ersten Geschosse nach der russischen Annexion der Krim. Jahrelang schwelte der Konflikt. Die Arifs schlugen sich durch, die beiden ältesten Kinder gingen zum Studium nach Charkiw – bis Putin am 24. Februar die gesamte Ukraine angriff.

Den letzten Zug aus Charkiw in Richtung Lugansk bekommen

„Mein Bruder und ich sind mit dem letzten Zug aus Charkiw Richtung Lugansk rausgekommen, wo wir in der Nähe wohnen“, sagt die 19-Jährige Akseniia und zeigt ihr Mobiltelefon: In einem Video sind rauchende Trümmer eines Gebäudes zu sehen. „Das war mal unsere Karasin-Universität“, sagt die Studentin. Ihr kommen die Tränen. Viele ihrer Kommilitonen seien noch dort. „Fast nur im Bunker.“

Als auch neben dem Haus der Familie eine Rakete einschlug, zögerten Viktoria und Ali keine Sekunde, flüchten mit der Familie im Auto nach Lyman, erwischen dort einen der Evakuierungszüge nach Westen. Immer wieder habe der Zug wegen Beschuss stoppen müssen, berichtet Viktoria von der Odyssee nach Lwiw, dann mit einem Bus nach Tschechien, mit einem Zug nach Berlin, irgendwann weiter nach Köln und schließlich nach Bergisch Gladbach.

Kontaktstellen und Hilfsangebote

Rheinisch-Bergischer Kreis

Zu Spenden-, Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten sowie Impfungen von Geflüchteten informiert der Rheinisch-Bergische Kreis auf seiner Internetseite.

Bergisch Gladbach

Zentrale Kontaktstelle für Belange der Ukraine-Hilfe der Stadt Bergisch Gladbach: (0 22 02) 14-29 29 und 14-29 28, E-Mail: ukraine@stadt-gl.de. Hier werden auch Wohnraumangebote von Privatpersonen gesammelt.

Overath

Eine Stelle für Hilfsangebote hat die Stadt Overath unter (0 22 06) 602-448 und per E-Mail an Ulkrainehilfe@overath.de eingerichtet. Weitere Infos auf den Internetseiten der Stadt.

Rösrath

Infos für Hilfsangebote und Antworten auf Fragen hat die Stadt Rösrath auf ihrer Internetseite zusammengestellt.

Kürten

Koordination von Spenden usw. über die neue Facebookgruppe des Fluchtpunkts: „Ukrainehilfe Kürten“. Wohnraumangebote: soziales@kuerten.de; (0 22 68) 93 91 90, -108, -207. Vorgehensweise bei Ankunft Geflüchteter: soziales@kuerten.de

Odenthal

Integrationsbeauftragte Claudia Kruse (0 22 02) 710-104 oder 0151-58 02 07 99. Spendenkonto, Link zur WhatsApp-Gruppe und weitere Infos auf der Internetseite der Gemeinde.

Ob sie jetzt in Sicherheit sind? „Im Kopf sind wir immer noch auf der Flucht“, sagt Ali. Seine Frau hat heute Geburtstag. Den 50. Aus Süßigkeiten und Nuss-Nougat-Creme haben ihre Kinder ihr einen „Geburtstagskuchen“ gebaut, um Mitternacht in der Wohnkabine überreicht. „Und ein Puzzle haben sie mir gemacht“, sagt Viktoria. Was sie heute noch machen möchte? „Mit allen zusammen spazieren gehen – einmal ohne Angst.“

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Straßenszene in Charkiw am 12. März.

Jana Kotelewets greift nach ihrem Handy. Eine Nachricht von ihrer Tante. Schon wieder neue Angriffe auf Charkiw. Worauf sie noch hoffen soll, weiß sie nicht. Klar freut sie sich, dass sie ihren Mann wiedergetroffen hat, der sich mit seiner marokkanischen Schwester bereits nach Deutschland durchgeschlagen hatte. „Er will hier weiterstudieren“, sagt sie, „aber ich gehöre doch in die Ukraine.“

Acht Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte junges Paar geheiratet

Acht Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine haben die beiden geheiratet. „Wir hätten doch nie gedacht, dass es jetzt Krieg geben würde“, sagt sie. Klar, 2014, als Putin die Krim annektierte, da hätten alle Vorräte eingekauft und mit dem Schlimmsten gerechnet, „aber jetzt doch nicht“.

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Für Großmutter und Tante war auch nach Putins Angriff am 24. Februar klar: Sie wollten Charkiw nicht verlassen. Tagelang versuchten auch Jana mit ihrer Mutter in der Stadt auszuharren, im mit Polstern ausgelegten Flur der Wohnung im elften Stock. „Irgendwann konnte ich nicht mehr, habe nur noch geweint, konnte es nicht mehr kontrollieren, musste Medikamente nehmen“, erinnert sich die 28-Jährige. „Einmal nur waren wir im sicheren Raum unter der Schule, ich musste ja immer mit meinem Hund raus. Er versteht nicht, was Krieg ist.“

Ach ja, ihr Hund Aaron und die Katze ihres Mannes. Jana kommen die Tränen. An der Grenze mit den Tieren durchzukommen, war um ein Vielfaches schwieriger als für Menschen. Deshalb sei ihre Mutter auch mit den Tieren in Polen zurückgeblieben, während sich Jana auf die Suche nach ihrem Mann machte. Jetzt hat sie ihn gefunden, aber zur Ruhe kommen kann sie kaum. Auch wenn sie gerne würde. Aber zu viele Freunde und Verwandte sind noch zu Hause in den umkämpften Kriegsregionen. „Es ist nur noch schrecklich dort, und ich weiß nicht, wann ich sie wiedersehen kann.“