„Sie soll wissen, dass sie kommen kann“Gladbacher fürchtet um ukrainische Verwandte
Bergisch Gladbach – Russland hat die Ukraine angegriffen. Menschen sterben, sind auf der Flucht. Zeitsprung: Die Familie von Witalij Sayko flüchtete mitten im Zweiten Weltkrieg aus der Ukraine. Es ist die Geschichte einer unglaublichen Reise von Menschen, die ihr Land verließen und nun aus der Ferne mit ansehen, wie der Krieg erneut in die Ukraine getragen wird.
Die ganze Welt schaut auf die Entwicklung in der Ukraine. Beschreiben Sie ihre Gefühle.
Sayko: Nun, ich bin in Deutschland geboren. Über meine Mutter, sie ist Jahrgang 1932, habe ich aber einen besonderen Blick auf die Ukraine. Ich habe auch noch Verwandte dort. Und wenn ich an meine Mutter denke, mache ich mir Sorgen. Einen Krieg in der Ukraine das sollte und das wollte sie nicht noch einmal erleben.
Zur Person
Witalij Sayko, Jahrgang 1959, lebt mit seiner Frau in Bergisch Gladbach. Das Ehepaar hat einen Sohn. Saykon hat Slawistik studiert und arbeitet beim Bundesverwaltungsamt.
Die Familie ihrer Mutter hat mitten im Zweiten Weltkrieg die Ukraine verlassen und hat sich in Richtung Westen, Richtung Nazi-Deutschland, aufgemacht. Man mag es kaum glauben.
Das ist unser Familiengeschichte und insofern für mich ganz normal. Um es richtig einzuordnen muss man verstehen, wie sehr die Ukraine unter dem Kommunismus gelitten hat. Sagt Ihnen der Begriff Holodomor etwas?
Die große Hungersnot in den 30er Jahren.
Da sind Millionen gestorben. Die Menschen in der Ukraine haben unglaublich gelitten. Für meine Großeltern, sie waren Lehrer, bot sich im Krieg die Möglichkeit zur Flucht. Ich glaube nicht, dass Deutschland das Ziel gewesen ist. Sie wollten einfach nur weg. Sie haben sich mit einem Karren auf den Weg gemacht. Also meine Großeltern mit ihren zwei Töchtern.
Wie haben sie es geschafft? Die Nazis haben ihnen sicher nicht geholfen.
Sie haben von der Hand in den Mund gelebt. Meine Mutter erzählt, wie sie gebettelt haben. Aber sie erzählt auch, wie Menschen sie versteckt haben. Aber klar: Sie haben unglaubliches Glück gehabt.
Und sind in Deutschland geblieben.
Ja, das hat sich dann so ergeben. Aber andere haben Deutschland verlassen. Ich bin in Deutschland groß geworden und habe hier studiert. Neben Angelisitik, Linguistik, Politikwissenschaften auch Slawistik. Ich habe eine Familie gegründet. Für mich lief es also gut.
Aber der Start war für ihre Familie sicher nicht einfach.
Meine Familienmitglieder kamen nach dem Status „heimatlose Ausländer“ mit dem Status „staatenlos“ nach Aufenthalten in Auffanglagern in einer extra für „vertriebene Ausländer aus der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten“ errichteten kleinen Siedlung bei Bielefeld unter. Überall in Deutschland, und auch in Porz-Westhoven, wurden solche Siedlungen gebaut und existieren bis heute. Meine Mutter lebt immer noch in der Gegend bei Bielefeld. Das war dort eine ganz bunte Menschengruppe aus vielen Ländern. Der Krieg hatte so viele in die Flucht getrieben. Dem Kommunismus zu entkommen war für sie die Hauptsache. Der Rest sollte sich finden.
Sie sind zweisprachig aufgewachsen?
Ukrainisch ist meine Muttersprache – mit meiner Mutter spreche ich selbstverständlich ukrainisch. Und sie sieht täglich über Satellit das ukrainische Fernsehen.
Sie nicht?
Ukrainisches Fernsehen über Satellit kann ich nicht empfangen. Es ist aber zu befürchten, dass aufgrund der gegenwärtigen Lage in der Ukraine das Fernsehprogramm auf „moskauer Kurs“ gebracht wird.
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Hatten Sie oder jemand anders aus ihrer Familie nicht den Wunsch in die Ukraine zurückzukehren? Das Land ist seit 1991 unabhängig.
Diese Unabhängigkeit kam für die Generation, die im Zweiten Weltkrieg das Land verlassen hatte, zu spät. In eine kommunistische Ukraine zurückzukehren war für sie undenkbar. Aber sie fühlten sich weiter dem Land zugehörig. Auch ich fühle mich der Ukraine auf seltsame Weise zugehörig – aber mich zieht es da nicht hin. Die Ukraine ist – das sollte auch über den Krieg nicht vergessen werden – ein Staat, der sich im Aufbau befindet, ich würde mich mit Sozialisation in West-Deutschland dort vermutlich nicht zurecht finden.
Die Ukraine war auf dem Weg zu einer westlichen Demokratie, in Richtung Europa.
So sehe ich das. Und das passt nicht in das Weltbild von Putin, der die Ukraine wenn nicht als staatlichen Teil Russlands, dann aber mindestens als Einflussbereich ansieht. Und ich glaube, wir alle haben inzwischen verstanden, dass ihm nur mit Entschlossenheit und Stärke Einhalt geboten werden kann.
Glauben Sie, dass es eine Flüchtlingswelle aus der Ukraine geben wird?
Ich kann das nicht einschätzen. Aber ich habe eine Verwandte im Westen der Ukraine. Ich versuche mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie soll wissen, dass sie kommen kann.