„Das unsichtbare Raubtier“Zwei Rhein-Bergerinnen sprechen über ihre Angsterkrankung
Rhein-Berg – Auf der Brücke spürte Rosi Winand die Angst zum ersten Mal. Damals, 1981 auf der Zoo-Brücke in Köln. Ein Stau hatte sich gebildet. Das Auto stand. Winands Gedanken rasten. „Ich wollte nur noch von der Brücke springen.“
Ihre erste Panikattacke hat die 64-Jährige aus Bergisch Gladbach bis heute nicht vergessen. „Danach war es nie wieder so schlimm.“ Doch danach wurde es auch lange nicht wieder gut. Die Angst begleitete die damals 24-Jährige, die kurz zuvor ihre Tochter zur Welt gebracht hatte, noch 34 Jahre lang – ohne, dass sie sich Hilfe suchte. Mit Auto, Bus oder Bahn zu fahren, war für sie unmöglich. Sofort kam die Angst wieder. „Ich dachte, ich bin einfach so und, dass ich das alles nicht kann.“
Dass sie damit falsch lag, lernte die Altenpflegehelferin erst 2015, als sie nach einer Operation am Kopf eine Zeit in einer Reha-Klinik verbrachte. Dort sprach sie in einer Gruppe zum ersten Mal mit anderen Betroffenen über ihre Ängste und stellte fest: „Es kann wirklich jeden treffen.“ Sämtliche Gesellschaftsschichten seien dort vertreten gewesen. „Sogar ein tätowierter Mann – da hätte ich nie gedacht, dass der vor etwas Angst hat.“
Über ein Viertel der Deutschen leidet unter psychischen Krankheiten
Doch Angst haben viele. Laut der Deutschen Angst-Hilfe (DASH), die die Interessen von Betroffenen mit Angsterkrankungen vertritt, leiden etwa 28 Prozent der Deutschen an einer psychischen Erkrankung. Mit Depression und Suchterkrankungen gehören Angsterkrankungen mit zu den drei häufigsten Krankheitsbildern. Neben einer erblichen Veranlagung können demnach auch psychische und soziale Faktoren eine Rolle spielen – etwa die Lebensgeschichte der eigenen Person.
Winand vermutet, dass ein Autounfall, bei dem sie lange Zeit im Wagen eingeklemmt war, ihre Krankheit auslöste. Darüber, wie sie die Angst besser in den Griff bekommen kann, spricht sie heute regelmäßig mit einer Psychologin. Seit ihrer Gründung vor sechs Jahren besucht sie auch die Selbsthilfegruppe in Bergisch Gladbach . „Der Austausch mit anderen tut unheimlich gut. Man weiß dann, dass man nicht allein ist.“
Selbsthilfegruppe in Bergisch Gladbach
Die Selbsthilfegruppe gegen Angst für den Rheinisch-Bergischen Kreis trifft sich jeden zweiten und vierten Mittwoch im Monat von 18.30 bis 20 Uhr. Wegen der Pandemie findet sie momentan digital über das Video-chat-Programm Zoom statt.
Der Gladbacher Markus Winterscheidt hat die Gruppe vor sechs Jahren gegründet. Er leidet selber an einer Angsterkrankung und möchte mit der Gruppe anderen Mut machen, sich über die Krankheit auszutauschen. Er sagt: „Bei uns gibt es keinen Druck. Wenn jemand nichts sagen möchte, muss er das nicht tun.“ Seit Corona machen immer mehr Menschen bei der Gruppe mit. „Einige habe ich im echten Leben noch nie getroffen – auch aus anderen Teilen Deutschlands schalten sich Menschen dazu. Bei uns ist jeder willkommen.“
Die Teilnahme an der Gruppe ist kostenfrei. Wer Interesse hat, meldet sich vorher direkt bei Markus Winterscheidt per Mail m.winterscheidt@web.de oder per Telefon unter 0173 – 82 70 353. (ebu)
Seitdem hat sich viel getan in ihrem Leben. Sie sei selbstbewusster geworden. „Mein Mann findet, ich bin nicht mehr so pflegeleicht“, sagt sie lachend. „Ich denke, das ist auch gut so.“
Mit Bus und Bahn zu fahren, sei immer noch nicht leicht, doch sie mache Fortschritte. Wenn die Angst kommt, zählt sie bis hundert. „Ich sage meiner Angst dann, dass sie gehen soll und das tut sie dann auch.“
Letztes Jahr hat Rosi Winand mit einer Freundin eine Bootstour über den Rhein gemacht. „Das wäre früher nicht möglich gewesen.“ Was sie Menschen mit Angsterkrankungen mitgeben möchte? „Sucht euch Hilfe und sprecht darüber – es muss nicht so bleiben.“
Angst ist wie ein „unsichtbares Raubtier“
Die Erfahrung hat auch Studentin Jana gemacht. Wie sie wirklich heißt, will die 21-Jährige nicht verraten. Aber über ihre Erfahrung mit der Angst spricht sie ganz offen. Vor drei Jahren brach sie mitten auf der Straße zusammen und erlebte daraufhin ihre erste Panikattacke. Auch Jana sagt: „Das war die Schlimmste.“
Nach der Attacke ist nichts mehr wie vorher. Sie unterbricht ihr Studium, zieht zurück zu ihren Eltern und kann das Haus nicht mehr verlassen. Zu groß ist die Angst vor der Angst. Vor der Frage, wie sich das anfühlt, habe sie sich schon gefürchtet, sagt sie heute lachend. Das sei schwer zu erklären. „Ich sage immer: Es ist, als ob ein Tiger hinter einem steht. Man ist regungslos vor Angst. Dann sieht man, dass da kein Tiger ist und man nicht einmal weiß, wovor man Angst hat.“
Trotzdem kann Jana beschreiben, was bei ihr die Symptome auslöst. Agoraphobie nennt sich ihre Form der Erkrankung. „Bei mir lösen öffentliche Räume, wo es nicht sofort Hilfe gibt, wenn etwas passiert, die Angstsymptome aus.“
Wegen einer körperlichen Erkrankung muss sie oft auf die Toilette. „Wenn man in der Öffentlichkeit unterwegs ist und nicht immer eine Toilette in der Nähe ist, geht es los.“ Das sei durch die Pandemie noch schlimmer geworden.
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Vorher konnte sie in Gaststätten oder auf öffentliche Toiletten gehen. „Jetzt, wo nichts mehr auf hat, gibt es diese Möglichkeit nicht mehr.“ Sonst habe die Pandemie nur wenig Auswirkung auf ihre Angsterkrankung. „Man geht ja sowieso kaum raus.“
Heute weiß Jana, wie sie mit der Erkrankung umgehen kann. Sie wohnt wieder allein und hat ihr Studium wieder aufgenommen. Schnell hat sie sich nach der ersten Panikattacke psychologische Hilfe geholt.
Sie besucht dieselbe Selbsthilfegruppe wie Rosi Winand. Die Gruppe könne zwar keine Therapie ersetzen, aber: „Es ist heilsam, sich mit anderen auszutauschen.“ Die Angst sei nicht ihr Feind, sagt sie. „Sie zeigt mir vielmehr, was gut ist für mich und was nicht.“