DialektDer Wortschatz dieser Kürtenerin ist eine Goldgrube für Wissenschaftler
- „Mir sin möd un hann Doscht“ – wer das versteht, versteht Bergisch Platt. Den Dialekt kann die 88-jährige Anneliese Radermacher aus Kürten noch wunderbar sprechen.
- Daher ist ihr Wortschatz für die Wissenschaft so wichtig, dass Dialektforscher sie gebeten haben, an einer historischen Studie teilzunehmen.
Rhein-Berg – Die Post von der Universität Siegen kam vor ein paar Tagen bei Anneliese Radermacher in Kürten an. „Ich bin jetzt fast eine Studentin“, sagt die rüstige 88-Jährige und muss selbst darüber schmunzeln. Was im Briefkasten lag, war ein dickes Dankeschön der Wissenschaftler.
Die Kürtenerin hatte sich im Herbst auf einen Aufruf der Siegener Dialektforscher gemeldet. Gesucht waren in der auch in dieser Zeitung erschienenen Meldung ältere Mitbürger jenseits der 70, die aus dem Bergischen stammen und mit dem Dialekt aufgewachsen sind. Anneliese Radermacher fühlte sich sofort angesprochen, sie stammt gebürtig aus Engelskirchen-Loope. Sie schrieb hin, und als Antwort kam ein Umschlag mit den sogenannten Wenker-Sätzen.
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Sprachwissenschaftler können mit diesem Begriff etwas anfangen: Es handelt sich um 40 Beispielsätze, die der Marburger Sprachwissenschaftler vor bald 150 Jahren für sein Forschungsprojekt verwendet hat. Von 1876 bis 1887 wurden bevorzugt Volksschullehrer im Deutschen Reich nach der Aussprache dieser Redewendungen befragt. 1881 erschien als Lebenswerk Wenkers der „Sprach-Atlas von Nord- und Mitteldeutschland“.
Material aus 30 000 Zuschriften wertete der Sprachwissenschaftler aus, „mit Hülfe der Volksschullehrer“, wie man dem Titelblatt entnehmen kann. Wenker schuf ein Musterbuch der Dialektforschung. Für den „Dialektatlas Mittleres Westdeutschland“ greifen die Siegener Wissenschaftler die Wenkersätze jetzt erneut auf. Anneliese Radermacher setzte sich an ihren Schreibtisch, nahm einen Stift und schrieb: „Em Wenkter fliejen de dröjen Bläder durch die Loft eröm!“ Und: „Et hüet jlich op ze schneien, dann wütt et widder besser!“
Beispiele sind seit mehr als 100 Jahren unverändert
Und auch diesen Satz: „Dunn Kollen in den Ovven, damit de Mellich bal an ze koche fängt.“ Ein anderer Satz lautet: „Mir sin möd un hann Doscht.“ Es waren Sätze aus dem Leben der einfachen Leute, die Wenker abfragte. Bis Satz 40 hielt Anneliese Radermacher durch, immer die Anleitung der Dialektforscher im Kopf: Sie solle so schreiben, wie sie die Sätze ausspreche. Am besten sei es, wenn sie zuvor die Sätze einmal laut vor sich her sage.
Auch das tat die Kürtenerin. Weil die Beispiele seit über 100 Jahren unverändert geblieben sind, sind sie für die Sprachforscher so wertvoll. Sie können auf diese Weise sehen, wie sich die Mundart von Ort zu Ort entwickelt hat. „Mir hat es unwahrscheinlichen Spaß gemacht“, sagt die Unterstützerin.
Atlas der Sprache
Der Dialektatlas Mittleres Westdeutschland ist ein auf 17 Jahre angelegtes Projekt, das an den Universitäten in Bonn, Münster, Paderborn und Siegen durchgeführt wird. Ziel ist die systematische Erhebung und Auswertung von Dialekten in NRW sowie in Teilen von Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Erfasst werden etwa Westfälisch, Ostfälisch, Niederfränkisch, Nordniederdeutsch, Ripuarisch, Moselfränkisch sowie Mittel- und Zentralhessisch. Das Projekt hat 2016 begonnen und läuft voraussichtlich bis 2033. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen über Landkarten im Internet auch phonetische Sprachproben abrufbar sein. (cbt)
Mittlerweile hat auch der Kürtener Geschichtsverein Interesse an der Mundartaktion bekundet. Archivarin Ute Jülich nahm Kontakt auf, die Sätze in Mundart sind seit kurzem auch im Archivbestand der Heimatfreunde. Besonders freut sich die Dialektfreundin, dass dem Wenker-Aufruf im 19. Jahrhundert auch der damalige Kürtener Hauptlehrer folgte. Hermann Horst, an der Volksschule zu Kürten, schrieb seinerzeit die gleichen Sätze wie heute Anneliese Radermacher.
Auf einem vergilbten Blatt, schwer zu entziffern, sind die Dialektproben des Kürtener Lehrers nachzuverfolgen. Die Mundartsätze ähneln einander, sie sind aber nicht identisch. Der Sohn des Kürtener Lehrers, Hubert Horst, ergriff später ebenso das Lehramt und unterrichtete in Loope, für drei Jahre auch Anneliese Radermacher. Und so schließt sich für die Kürtenerin der Kreis.