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Eins zu einer MillionWie ein Overather Paar mit dem seltenen Gendefekt seiner Tochter umgeht

Lesezeit 7 Minuten
Josefine kann sich nicht selbst aufrecht halten, da ihre Muskeln nicht stark genug sind. Deswegen wird sie in ihrem Stuhl angeschnallt.

Josefine kann sich nicht selbst aufrecht halten, da ihre Muskeln nicht stark genug sind. Deswegen wird sie in ihrem Stuhl angeschnallt.

Die Familie verbringt wegen Arztterminen viel Zeit in ihrem Auto. Das wird langsam zu klein und die Overather sammeln Spenden für einen Bus.

Als Vera Vogel die Türe öffnet, macht sie Schnalzgeräusche mit ihrer Zunge. In der Wohnung läuft ein Hörspiel im Hintergrund. Die Geräuschkulisse beruhige Josefine – ihre Familie nennt sie Fienchen. „Sie braucht immer Geräusche und Stimmen, sonst wird sie nervös“, sagt die Overatherin. Fienchens Gehirn ist nicht voll entwickelt, weil ihr Körper keine Kohlehydrate verarbeiten kann. Das liegt an einem Gendefekt, der Pyruvatdehydrogenase-Mangel heißt. Durch diesen wird Fienchen auch niemals selbst laufen oder sitzen können. Eins zu einer Millionen stehen die Chancen, dass ein Kind mit diesem Gendefekt geboren wird.

„Am Anfang haben wir schon gedacht: Wieso ausgerechnet unser Kind“, sagt Vogel. Sie und ihr Mann Markus Wester hätten sich Vorwürfe gemacht und ihre Gene testen lassen. Vogel habe auch mehr als einmal nachgefragt, ob sie irgendwas gemacht habe, womit sie ihrer Tochter das angetan habe. „Aber die Ärzte meinten, dass wir den Genfehler weder vererbt haben, noch habe ich etwas falsch gemacht. Es war das Schicksal, das ihr das angetan hat“, sagt Vogel. Sie habe das anfangs nicht glauben können.

Eigentlich kann ich mich bis heute nicht mit der Situation abfinden
Markus Wester, Vater

Das zu akzeptieren sei schwer: „Eigentlich kann ich mich bis heute nicht mit der Situation abfinden“, sagt Wester. Das habe mehrere Gründe: Die Ärztinnen und Ärzte ließen sie zum Beispiel oft im Dunkeln, sie müssten selbst viel recherchieren und Untersuchungen einfordern. Das sei schon vor Fienchens Geburt so gewesen. In der 32. Schwangerschaftswoche sei aufgefallen, dass das Baby zu wenig wiegt. Erst seien die Ärzte von einer Hirnblutung ausgegangen. Der Verdacht habe sich aber nicht bestätigt. „Meine Frau wusste von da an Bescheid, dass etwas nicht stimmt. Mir war das noch nicht so bewusst“, schildert der Vater.

Bei einer späteren Untersuchung in der Pränatalen-Diagnostik sei dann deutlich geworden, dass Fienchen nicht gesund auf die Welt kommen würde. Der Verdacht kam von einem Arzt, „der schon mit einem halben Bein in der Rente war“. Seine Kollegen hätten wenige Ideen gehabt, was nicht stimmen könnte.

Ärztin weite bei Untersuchung

Als die Ärztin schließlich mit dem Verdacht auf einen Gendefekt herausrückte, habe diese angefangen zu weinen. „Das war schrecklich“, sagt Vogel zum Fienchen, die sie auf ihrem Arm hält. Lange sei nicht klar gewesen, wie schlimm der Genfehler sich auf Josefine auswirken wird. „Es hätte sein können, dass sie nach ein paar Stunden stirbt oder dass man ihr nichts anmerkt“, schildert Vogel. Ein Arzt habe ihr angeboten, die Schwangerschaft in diesem fortgeschrittenen Stadium noch abzubrechen. Aber ihr sei von Beginn an klar gewesen: „Auch wenn es nur ein paar Stunden leben könnte, ich bringe dieses Kind zur Welt.“ Nach der Geburt habe sie schauen wollen, wie sich die Einschränkung auswirkt und was man tun kann. Schließlich hätte auch nichts sein können.

Ihre Familie, besonders Mutter Vera Vogel, kümmert sich rund um die Uhr um die Dreijährige.

Ihre Familie, besonders Mutter Vera Vogel, kümmert sich rund um die Uhr um die Dreijährige.

Trotz des Verdachts hätten die Ärzte die Familie einfach nach Hause geschickt. Ohne abzusprechen, wie eine weitere Diagnostik aussehen könnte oder ob Josefine spezielle Behandlungen braucht, kritisieren die Eltern. Vier Monate, in denen Fienchen immer wieder Anfälle hatte, habe es gedauert, bis die Diagnostik weitergeführt worden sei. Und auch das nur, weil Vera Vogel darauf bestanden habe, dass ihre Tochter weiter untersucht wird.

Dabei habe sich herausgestellt, welchen Gendefekt Fienchen hat, dass sie die ganze Zeit falsch ernährt worden sei und dass sie unter Epilepsie leidet – daher die Krämpfe und Anfälle. „Die Ärzte können nicht sagen, ob die Anfälle ihre Einschränkungen verschlimmert haben“, sagt Vogel. Außerdem habe ihre Tochter eine verkürzte Lebenserwartung. „Doch auch hier sagt uns niemand, worauf wir uns einstellen sollten“, ärgert sich Wester. Es gibt Menschen mit dem Gendefekt, die Mitte 20 werden. Aber darauf könne man sich nicht verlassen. „Ich verdränge, dass sie früher sterben könnte. Daran möchte ich nicht denken“, sagt Vogel.

Fienchen wird über Sonde ernährt

Seitdem Fienchen vier Monate alt ist, wird sie nur noch ketogen ernährt. Also möglichst ohne Kohlehydrate, dafür mit viel Fett. „Die Muttermilch hat ihr geschadet. Das war sehr hart für mich“, sagt Vogel. Anfangs hat Fienchen ihre spezielle Nahrung noch selbst gegessen, aber nach einer Lungenentzündung, die sie bekam, nachdem sie sich verschluckt hatte, kann oder möchte sie nicht mehr selbst essen. Daher nimmt sie ihre Nahrung über eine Sonde an ihrem Bauch auf.

Aus einem Gerät, auf dem ein Einhorn zu sehen und das mit weißer Flüssigkeit gefüllt ist, hängen Schöäuche.

Über dieses Gerät wird Josefine ernährt.

Dafür pumpt ein Gerät, das mit Einhörnern und Glitzer verziert ist, über einen Schlauch eine weiße Flüssigkeit zur Anschlussstelle am Bauch. Diese muss regelmäßig überprüft werden – und nicht nur das: Alle drei Monate wird ein EEG gemacht, Fienchen geht zur Frühsehförderung, weil ihr Gehirn nicht verarbeiten kann, was die Augen wahrnehmen und auch weil sie auf einem Ohr schwerhörig ist, stehen immer viele Arztbesuche an. „Manchmal sind wir fünf bis sechsmal im Quartal in den Unikliniken“, schätzt Vogel.

Overather Familie braucht größeres Auto

Den Großteil des Tages verbringe die Familie im Auto – das für die Dinge, die Josephine stets dabei haben muss, langsam zu klein wird, obwohl es schon ein Kombi ist. Für einen Tagesausflug reiche der Platz so gerade eben: „Am letzten Tag der Sommerferien sind wir ins Freibad gefahren und das Auto war bis oben hin voll“, schildert Wester.

Die Familie brauche einen Bus, der rollstuhlgerecht ist und in den alle Utensilien passen. Doch dafür fehlt ihnen das Budget. Deswegen haben sie einen Spendenaufruf gestartet, mit dem sie Geld für das behindertengerechte Auto sammeln. „Mit dem Bus könnten wir auch mal meine Freunde auf Ausflüge mitnehmen. Die passen nämlich nie mit rein. Es sei denn, Papa bleibt zu Hause“, sagt Fienchens großer Bruder Karl und schaut zu seinem Vater, der sich neben ihn auf die Sitzecke setzt. Er erwidert mit einem Schmunzeln: „So dick bin ich doch noch gar nicht.“

Manchmal bleibt nicht genug Zeit für beide Kinder

Karl ist acht Jahre alt und habe sich anfangs schwer getan, seine Schwester zu akzeptieren. „Irgendwann ging es ganz gut, aber im Moment ist es wieder schwieriger“, sagt Vera Vogel. Denn die Pflege von Josefine nimmt viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Karl habe zwischendurch das Gefühl, dass seine Eltern nur Zeit für seine Schwester haben. „Und an schlechten Tagen hat er auch recht damit“, räumt Vogel ein. Dabei braucht Karl auch viel Aufmerksamkeit und Zuwendung. Denn er hat ADHS, eine Leserechtschreibschwäche und Dyskalkulie. Außerdem bestehe der Verdacht auf Autismus.

Doch: Wenn Fienchen nicht gut drauf sei, beruhige sie sich nur, wenn sie bei ihrer Mutter auf dem Schoß sitzt. Manchmal beruhige sie auch eine Lampe, über die Drähte gespannt sind. Vor dieser sitzt Josefine während des Gesprächs ihrer Eltern mit dieser Zeitung auch zwischenzeitlich. „Das ist oft die einzige Zeit, in der ich sie für eine halbe Stunde dazu bekomme, ruhig in ihrem Stuhl zu sitzen“, sagt Vogel. Da bleibe wenig Zeit für anderes. Zumal Vogel sich auch noch um ihren kranken Vater kümmern muss, der etwas entfernt wohnt und zu dem sie teilweise mehrmals am Tag fährt.

Etwas Erleichterung soll der Umzug in das Haus ihres Vaters schaffen. So würden beide Pflegefälle an einem Ort wohnen. Und Josefine müsste nicht mehr in den obersten Stock des Mehrfamilienhauses getragen werden. Was immer herausfordernder werde, weil sie mit ihren drei Jahren langsam schwer werde.

Overatherin hat nicht einmal genug Zeit, um länger zu weinen

Gelegenheit für eine Auszeit haben Vogel und Wester selten. „Manchmal sitze ich auf dem Küchenboden und weine. Aber nicht lange, dafür habe ich keine Zeit“, sagt Vogel. Das Paar liebe seine Kinder, aber der Alltag sei oft anstrengend und schwer. Und dann kommen noch die Reaktionen von außen dazu: „Eine Frau hat mal gesagt: Das muss heutzutage doch nicht mehr sein und den Kopf geschüttelt, als sie an uns vorbeigegangen ist“, berichtet Vogel. Josefine nehme die Umwelt hauptsächlich über ihre Zunge wahr. „Sie schmeckt die Sonne. Oder die Luft“, sagt Vogel. Dafür strecke sie ihre Zunge raus und bewege sie. „Wenn man das unangenehm findet, kann man ja einfach weggucken“, findet sie.

Sie verstehe nicht, wieso Menschen so etwas sagten. Oder wieso man ihr verständnislose Blicke zuwirft, als hätte sie etwas falsch gemacht. „Ich fühle mich, als müsste ich mich andauernd für die Existenz meiner Tochter rechtfertigen. Oder dafür, dass sie so ist, wie sie ist“, sagt die Mutter. Sie wünsche sich, dass die Gesellschaft liebevoller und entspannter mit behinderten Menschen umgeht. „Sie brauchen nämlich besonders viel Liebe“, findet sie.

Ihr als Mutter wäre es leichter gefallen, mit der Situation umzugehen, wenn sie nicht diese Ablehnung aus der Gesellschaft gespürt hätte: „Damit machen es die Menschen noch schwerer. Und wir haben es doch schon schwer genug.“