Das Unternehmen entwickelt künstliche Intelligenz, die den Verkehr entzerren oder Hitzeinseln identifizieren soll.
Start-ups in Rhein-BergBergisch Gladbacher entwickelt KI, die verborgene Probleme lösen soll
Von oben sieht man mehr. Satellitenkameras haben durch ihre exponierte Weltraumlage stets den Überblick über Großes, Kleineres und Verstecktes. Sie erkennen die Lage antiker römischer Wälle, russische Panzer und das Ausmaß von Überschwemmungen. Was den Blickwinkel angeht, sind sie dem Menschen weit überlegen. Was die Bilder bedeuten, und welchen Nutzen man aus ihnen ziehen kann, ist jedoch der menschlichen und zunehmend auch der künstlichen Intelligenz (KI) vorbehalten.
Im Mai 2021 gründeten Daniel Lanz, David Scherf und Santiago Pazos ihr Technologie-Start-up Marple, zu dessen Namensgebung durchaus bewusst Agatha Christies findige Miss Marple beitrug. Marple wertet Bilder aus dem All mit Hilfe von KI aus. Das Ziel: Nutzen stiften für Mensch und Klima, indem man Dinge identifiziert, die nicht offensichtlich sind.
„Mit Satellitendaten können wir zum Beispiel Hitze-Inseln in Städten erkennen und auch, wie schnell sie abkühlen“, sagt Lanz. „Anhand einer Hitzeinselkarte könnte man die Top Ten ermitteln und konkrete Maßnahmen überlegen – ganz pragmatisch.“ Bei einem Projekt für die Stadt Hamburg untersuchte das junge Unternehmen Marple die Verkehrssituation: Wo sind wie viele Autos? Wie verändert sich das Aufkommen quartalsweise? „Kein Mensch will und kann auf hunderten von Quadratkilometern Autos zählen“, sagt Lanz. Die Marple-KI zeigt zu jedem Fahrzeug an, ob es sich um einen Pkw oder Lkw handelt – und sie lässt von oben sehr ähnlich aussehende Müllcontainer aus der Zählung raus. „Aufgrund solcher Daten können beispielsweise Verkehrsflächen begründet umgewidmet werden“, erklärt Daniel Lanz.
Was Marple verkauft, sind nicht die Karten. „Die sehen zwar schön aus“, sagt der Start-up-Gründer, „aber wir müssen Zahlen liefern, die irgendetwas schneller, besser, günstiger machen.“ Zahlen zu Hitzeinseln, Fahrzeugen, Grünflächen, Abbau von seltenen Erden und zu Bio-Baumwollfeldern.
KI von Hand trainiert
Bio-Baumwollfelder? In einem Forschungsprojekt mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA untersuchte Marple Lage und Anzahl von Bio-Baumwollfeldern in Usbekistan. Mit dabei die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ. Sie fördert den biologischen Anbau, weil er einen Nutzen vor Ort hat: weniger Pestizide, gesündere Menschen und Produkte, langlebigere Böden.
Doch woher weiß die Marple-KI, was biologisch angebaut ist? „Konventioneller Anbau ist linear, organischer sehr variabel mit viel mehr Fluktuation“, erläutert Daniel Lanz. Abhängig von Wetterbedingungen und Mikroklima wächst die Baumwolle abhängig von der Anbauart unterschiedlich – und aus dem Weltraum erkennbar. Die KI wird zunächst trainiert. „Das ist ein bisschen, als würden Sie einem Kind erklären, was eine Katze ist“, sagt Lanz. Über eine Auswahl von 1000 von Hand ausgewählter Bilder wird das System trainiert, konventionell und biologisch zu unterscheiden. Dann muss es an Testdaten üben. Erkennt es eine „Katze“ als „Hund“ oder umgekehrt, wird ihm die Information gegeben, dass das falsch ist – es lernt.
Über das Forschungsprojekt wurde GOTS, der Global Organic Textile Standard, aufmerksam auf Marple. Der weltweite Standard für Textilien aus biologisch erzeugten Naturfasern ist ein wichtiges Siegel. In einer Ausbaustufe wurde das Projekt damit auf Indien ausgeweitet. Eine Herausforderung. „Es gibt sehr viele kleine Felder und viele verschiedene Klima- und Mikroklimazonen. Das war datentechnisch Champions League“, so Daniel Lanz. 5,9 Millionen landwirtschaftliche Felder auf 56.000 Quadratkilometern, davon rund zehn Prozent Baumwolle. Für menschliche Zertifizierer beinahe unmöglich zu kontrollieren.
Auch die Marple-KI kann die Bilder der ESA nicht mit 100-prozentiger Genauigkeit auswerten. Aber diese liefern Anhaltspunkte, zum Beispiel, ob die exportierten Mengen plausibel sind. Oder auch, welche Orte sich die Zertifizierer genauer anschauen sollten. Nicht 100, wie ohne KI, sondern nur fünf. So war letztendlich der größte Wert, dass allein die Existenz der Auswertung den Betrug stark zurückgehen ließ. „Auch Kriminelle sind ja nicht dumm“, sagt Lanz. „Sie wissen, dass das erst der Anfang ist.“ Noch sind hochauflösende Daten von Satelliten sehr teuer und für Business-Anwendungen nicht wirtschaftlich.
Auf Dinge konzentrieren, die sich ändern lassen
Herausforderungen gibt es viele. Teure Bilder, Schatten auf Bildern durch Hamburger Hochhäuser, Bereiche, die von Satelliten nicht abgedeckt werden, sinnvolle Projekte, die sich aber nicht jeder leisten kann. Aber: „Start-ups konzentrieren sich auf Dinge, die sich ändern lassen. Wenn man ständig motzt, was nicht geht, kommt man nicht weiter“, sagt Lanz. Man müsse sich auf das konzentrieren, was man beeinflussen und nach vorne bringen könne. Angst zu scheitern hat er nicht – klassische Start-up-Denkweise.
Abgesehen von Fördergeldern arbeitet Marple nur mit Eigenkapital, um unabhängiger zu sein. Ein großer Teil des Unternehmenswerts ist die Expertise der Gründer. Lanz arbeitet vom Rheinisch-Bergischen Technologie-Zentrum in Bergisch Gladbach aus, seine Mitgründer sitzen in Hamburg und im spanischen San Sebastian. Auch das gehört zur Start-up-Arbeitsweise. Diese Einstellung hingegen nicht immer: „Wir müssen nicht ultrareich werden“, sagt Lanz. „Wir sind erfolgreich, wenn wir sinnvolle Dinge tun, die nicht von Marketing-Agenturen beworben werden müssen.“