BelastungsstörungLoveparade-Katastrophe verfolgt junge Erftstädterin bis heute
Erftstadt-Dirmerzheim – Der Klang von Sirenen und Martinshörnern treibt bei manchem mal kurz den Puls in die Höhe. Aber dann folgt meist Entspannung, die beruhigende Gewissheit: Hilfe kommt, da sind Menschen unterwegs, um zu löschen, um zu retten, um Verletzte zu versorgen. Diese Entspannung ist Annika Jung aus Erftstadt nicht gegönnt. Wenn sie das Heulen hört, verliert sie das Bewusstsein, fällt um, zittert krampfhaft. Die 28-Jährige leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Die Ursache dafür liegt elf Jahre zurück. Annika Jung hat das Unglück bei der Loveparade in Duisburg miterlebt. Die Symptome setzten lange Zeit später ein, und damit begann ein „Horrorweg“. „Ich bin zwei Jahre lang von Krankenhaus zu Krankenhaus geschickt worden“, erzählt die junge Frau. Der eine Arzt vermutete Synkopen, also Aussetzer des Herzschlags, der andere eine neurologische Störung. Vor drei Jahren stellte schließlich eine Psychiaterin die Diagnose PTBS.
Schon ein Supermarkt-Kunde kann bei Annika Jung einen Anfall auslösen
Die Erinnerungen an die Massenpanik haben sich tief in Annika Jungs Seele eingebrannt. Sirenen oder Martinshörner sind Trigger, also Auslöser der Anfälle. Die Hochwassertage waren deshalb besonders schlimm für sie, der nasse Keller im Haus in Dirmerzheim war da ihr geringstes Problem.
Assistenzhund Balu soll ihr jetzt helfen auf dem Weg zurück in ein normales Leben. Denn Spazierengehen oder schlicht Einkaufen ist für die junge Frau eine Herausforderung. Eine große Menschengruppe, die wie eine Wand auf sie zu kommt, oder schon ein einzelner Kunde in einer Engstelle zwischen Supermarktregalen können einen Anfall auslösen.
Balu ist ausgebildeter Assistenzhund. Wenn Annika Jung umfällt, legt er sich der Länge nach auf sie. Seine 36 Kilo drücken auf ihren Körper, verhindern unter anderem, dass sie hyperventiliert, also zu schnell atmet. Und er leckt ihr durchs Gesicht. „Tatsächlich ist es der Ekelreiz, der mich dann wieder zu Bewusstsein bringt.“ Im Idealfall kann sie dann aufstehen, schwankend zwar, aber immerhin. Wenn sie sich nicht beim Sturz verletzt hat.
Erftstadt: Ein Jahr lang hat sich Annika Jung im Haus verkrochen
Ein Jahr lang hat sich Annika Jung im Haus verkrochen. Jetzt will sie – mit Balu – wieder unter Menschen. Die reagierten allerdings oft verstört auf ihre Anfälle. Den Rettungsdienst zu rufen sei durchaus die richtige Reaktion, vor allem, wenn sie blutende Wunden habe. Manch einer versuche aber, Balu von ihr herunterzuziehen. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen: Dank seiner Abstammung – er ist ein Mix aus Labrador und Deutsch Kurzhaar – ist der Rüde mit guten Nerven und einer gehörigen Portion Sturheit gesegnet.
Zweieinhalb Jahre ist Balu alt, Annika Jung hat ihn als Welpen bekommen und nach der Grunderziehung mit der Trainerin Isabell Riedling aus Mechernich-Katzvey ausgebildet. Wobei das Training immer weiter geht und der Hund seine Fähigkeiten immer weiter entwickelt. „Mittlerweile spürt er, wenn ein Anfall kommt. Dann stellt er sich vor mich und schirmt mich ab.“ Irgendwann, hofft die 28-Jährige, könne er sie vielleicht so früh warnen, dass sie selbst mit Atemübungen den Krampf verhindern kann. Oder sich zumindest schon mal auf den Boden legen kann.
Beim Gespräch verliert Annika Jung das Bewusstsein
Die Musikpädagogin möchte die Arbeit von Assistenzhunden bekannter machen. Und den Menschen erklären, wie sie sich richtig verhalten. „Man sollte den Hund seine Arbeit machen lassen und ihn erstmal auch nicht ansprechen“, sagt sie. Leider sei es passiert, dass sie im Rettungswagen weggebracht worden sei und Balu an einen Baum gebunden zurückgeblieben sei – „obwohl er ein spezielles Geschirr trägt, das ihn als Assistenzhund kenntlich macht und auf dem Kontakttelefonnummern stehen“.
Während sie das erzählt, steigt der Hund mit den Vorderpfoten auf ihren Schoß: „Er merkt, dass ich aufgeregt bin.“ Mein Besuch löst diesen Stress aus, auch wenn unser Gespräch völlig entspannt verläuft. Doch dann ruft Annika Jungs Partner aus dem Obergeschoss des Hauses eine Warnung. Sie steht auf, geht in Richtung Wohnzimmer – es tut einen dumpfen Schlag.
Erst dann höre auch ich das Martinshorn eines Rettungswagens. „Zu spät“, sagt eine Freundin, die beim Gespräch in der Küche dabei war, und ganz gelassen Richtung Wohnzimmer geht. Auch der Partner kommt ohne Hast die Treppe runter. Sie wissen, dass Balu schon längst seinen Job macht. Er liegt auf seiner Besitzerin, leckt ihr durchs Gesicht. Sekunden später ist sie wieder bei Bewusstsein, ein bisschen wacklig, aber guter Dinge. Sie geht mit Balu vor die Tür. Nun darf er einfach Hund sein und mit seiner vierbeinigen Freundin Ella über die Wege flitzen.
Info: Krankenversicherungen zahlen in vielen Fällen nicht für Assistenzhund
Der Blindenhund ist wohl die bekannteste Art Assistenzhund. Er leitet seinen Menschen selbst durch unbekannte Gegenden, achtet auf den Verkehr, weicht Hindernissen aus. Es gibt aber auch Assistenzhunde für Diabetiker – sie merken, wenn der Blutzuckerspiegel sinkt. Oder sie spüren, wenn bei Epileptikern ein Anfall droht. Anders als ein Therapiehund wird der Assistenzhund ganz speziell für und mit einer bestimmten Person ausgebildet.
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Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales fördert die Aufklärungskampagne „Assistenzhund willkommen“ des Verein Pfotenpiloten aus Frankfurt. Sie soll helfen, Assistenzhunden Zutritt zu Gebäuden oder Veranstaltungen zu verschaffen, in denen Hunde normalerweise verboten sind. Ihnen darf der Zutritt zu Geschäften, Gaststätten, Arztpraxen und Krankenhäusern, aber auch die Fahrt im Taxi nicht verwehrt werden.
Krankenversicherungen zahlen in vielen Fällen nicht für einen Assistenzhund. Oft werden die Kosten der Tiere, die ihrem Besitzer die Teilnahme am normalen Leben ermöglichen und ein wichtiger Schritt zur Inklusion sind, von Vereinen übernommen.