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InterviewVortrag in Frechen über die Schrecken und Traumata der Kinderverschickung

Lesezeit 5 Minuten
Auf dem SW-Bild ist eine Gruppe von Kindern mit Pflegerinnen zu sehen.

Die Eltern schickten ihre Kinder zu den meist sechswöchigen Kuren im guten Glauben, ihnen etwas Gutes zu tun.

Detlef Lichtrauter, Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW“ spricht in Frechen über die oft traumatischen Aufenthalte.

Von 1946 bis in die 1990er Jahre wurden deutschlandweit zwischen zehn und zwölf Millionen Kinder zu Kuren verschickt, davon in Nordrhein-Westfalen 1,9 Millionen. Sie machten dort häufig menschunwürdige, traumatisierende Erfahrungen. Detlef Lichtrauter hält am Mittwoch, 26. März, 18 Uhr, in der VHS Frechen einen Vortrag über die Kinderverschickungen. Michael Henke sprach mit dem pensionierten Diplom-Musikpädagogen, der sich seit 2021 als Vorsitzender des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V.“ sowie seit 2022 als Projektleiter des Bürgerforschungsprojekts Kinderverschickungen-NRW engagiert.

Kinderverschickungen, das klingt nach Kuraufenthalt und Ferienfreizeit: Was war das Ziel solcher Angebote?

Detlef Lichtrauter: In der Regel haben der Hausarzt, Kinderarzt oder Amtsarzt bei den Schuluntersuchungen den Eltern diese sechswöchigen Kinderkuren empfohlen. Entweder, weil es eine medizinische Indikation gab wie Atemwegserkrankungen oder Asthma, oder – und das betrifft die Mehrzahl der verschickten Kinder – weil der Arzt fand, sie seien etwas schwach auf den Rippen und frische Luft im Schwarzwald, Allgäu oder an der Nordsee würde ihnen guttun. Die Ärzte waren dabei Teil eines finanziell lukrativen Systems, welches eine gute Auslastung der Einrichtungen anstrebte. Für Baden-Württemberg gibt es zum Beispiel einen schriftlichen Beleg, dass Ärzte für jede Verschickung eine Prämie bekamen. Die Eltern gaben ihre Kinder in diese Kuren in dem gutem Glauben, ihnen etwas Gutes zu tun.

Was waren das für Kurheime?

Es gab gewisse weit gefasste Vorgaben, zum Beispiel bezüglich des Raumangebots, die Zahl der Toiletten und des Vorhandenseins von Sanitäranlagen. Außerdem musste ein Arzt vor Ort sein oder zumindest wöchentlich eine ärztliche Visite stattfinden. Die Heime beschäftigten aber sehr wenig ausgebildete Erzieherinnen. Stattdessen arbeiteten dort Kinderpflegerinnen und Großteils Frauen aus dem Ort ohne pädagogische Ausbildung, die als billige Hilfskräfte eingesetzt wurden – selbst in großen Einrichtungen mit bis zu 400 Kindern. Hintergrund ist der mögliche finanzielle Gewinn: Die Kurheime bekamen für jedes Kind einen festen Satz, das heißt, je geringer die Personalkosten ausfielen, desto höher war der Gewinn. Deshalb wurde auch an der Verpflegung gespart.

Trifft das auf alle Einrichtungen zu?

Nein, es gab große Unterschiede. Schätzungsweise jedes zehnte Kind machte positive Erfahrungen und berichtet von einer wunderschönen Zeit, freundlichem Personal, tollem Essen, Ausflügen und Spielen. Aber mehr als 90 Prozent der Kinder haben Negatives erlebt.

Wer hat die Einrichtungen kontrolliert?

Das ist einer unserer zentralen Aufarbeitungspunkte. Denn wir fragen uns, wie es dazu kommen konnte, dass viele dieser Kinderkurheime zu rechtsfreien Räumen wurden. Denn das waren sie. In ihnen kam es zu massiven Straftaten. Nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 waren die Jugendämter für die Kontrolle zuständig, teilweise auch die Gesundheitsämter. 1979 wurden die Jugendämter durch eine höchstrichterliche Entscheidung nachträglich von dieser Aufgabe befreit, mit der Begründung, dass diese Heime keinen pädagogischen Auftrag hätten. Faktisch waren sie aber bis 1979 zuständig. Akten belegen jedoch, dass Kontrollen entweder nicht standgefunden haben oder Wochen im Voraus angekündigt wurden. Die Kinder wurden bei den Kontrollen nie befragt, sondern es wurde nur auf Sauberkeit geachtet und der Personalschlüssel überprüft.

Auf dem Bild ist das Portrait eines Mannes in einem blauen Sakko zu sehen.

Detlef Lichtrauter kümmert sich darum, dass die menschenunwürdigen, teils strafbaren Behandlungen der Kinder in den Kurheimen zwischen 1946 und Anfang der 1990er Jahre aufgearbeitet werden.

Was wurde in den Heimen unternommen, um die medizinischen Ziele zu erreichen?

Der Erfolg der Kur wurde bei denjenigen Kindern, die aufgepäppelt werden sollten, in Kilogramm gemessen. Sprich: wir wurden gemästet. Deshalb wurde kein Augenmerk auf die Qualität der Speisen gelegt, sondern ihren Fettgehalt und Kalorienreichtum. Und es gab Essenszwang: Man musste aufessen, was man auf den Teller geschaufelt bekam. Das ging so weit – ich war selbst dabei –, dass sich ein Kind in seinen Teller mit Linsensuppe erbrochen hatte und gezwungen wurde, diesen samt Erbrochenem aufzuessen.

Um die Ziele bei medizinischer Indikation zu erreichen, gab es Liegekuren, an denen alle teilnehmen mussten. Man lag bei absolutem Redeverbot draußen oder in offenen Hallen unter kratzigen Wolldecken, die Hände über der Decke. In manchen Einrichtungen wurden Kinder hierfür sogar festgeschnallt. Zusätzlich mussten alle Kinder zwei Stunden Mittagsschlaf halten – unsinnig bei Sechs- bis Zehnjährigen mit starkem Bewegungsdrang. Der eigentliche Grund hierfür war, dass in dieser Zeit eine Aufsichtsperson genügte und das übrige Personal hauswirtschaftliche Tätigkeiten verrichten konnte. Eine weitere typische Maßnahme war, die Kinder vor eine Höhensonne zu setzen, damit sie eine gewissen Bräune bekamen und gut erholt aussehend nach Hause zurückkehrten.

Der Zwang aufzuessen, was auf den Teller kam, war in der damaligen Zeit auch in Familien verbreitet, der Erziehungsstil oft noch von Erziehungsratgebern aus der NS-Zeit geprägt, wie die von Johanna Haarer.

Das, was viele Verschickungskinder in den Kurheimen erlebt haben, ging weit über diesen Erziehungsstil hinaus: Permanente Demütigung, Gewalt, Prügel, Essenszwang, Redeverbote, Toilettenverbote, Fesselungen, Medikamenten- und sexueller Missbrauch. Was wir anprangern, waren schon damals Straftatbestände, zum Beispiel der Medikamentenmissbrauch. In Haus Bernward in Oberkassel bekamen wir jeden Tag Psychopharmaka, mit dem einzigen Grund, uns zu sedieren. Das wurde in einem Ratgeber für die Kinderverschickungsheime empfohlen – mit der lapidaren Begründung diese Sedierung würde Heimweh vorbeugen.

Ein Junge sitzt in einem Treppenhaus an einem Fenster. (Symbolbild)

Die Kinder wurden zum Teil traumatisiert und leiden noch als Erwachsene unter den damaligen Aufenthalten. (Symbolbild)

Wie haben die Eltern reagiert, wenn die Kinder von ihren Erlebnissen berichtet haben?

Man kann zwei Gruppen unterscheiden: die, die darüber berichtet, und die, die das Erlebte verschwiegen haben. Ich habe zum Beispiel auf die Frage meiner Eltern, wie es gewesen sei, nur „gut“ geantwortet und konnte erst nach mehr als 20 Jahren mit meiner Mutter darüber sprechen. Die, die über ihre Erlebnisse erzählt haben, sind teilweise auf Verständnis gestoßen, was manchmal zu Beschwerden bei der Entsendestelle geführt hat. Auf diese gab es entweder keine Antwort oder die Schilderungen wurden als unglaubwürdig zurückgewiesen. Teilweise wurden die Kinder von den Eltern zusätzlich bestraft, weil man sie für unglaubwürdig hielt. Das Erzählte passte nicht in die Vorstellungswelt der Eltern.

Welche Folgen hatten diese Erlebnisse bei Betroffenen für ihr späteres Leben?

Viele ehemalige Verschickungskinder haben mit Traumafolgestörungen zu tun. Sie leiden als Erwachsene an unterschiedlichen psychosomatischen Störungen, Depressionen, Angstzuständen, Migräne und Beziehungsproblemen, konnten keine dauerhaften Beziehungen aufbauen.


Wer zu Detlef Lichtrauter Kontakt aufnehmen möchte, erreicht ihn per E-Mail Detlef.Lichtrauter@akv-nrw.de oder 0163/1328215. Informationen über die Arbeit des AKV-NRW und CSP-KV-NRW unter: www.kinderverschickungen-nrw.de.