Experten sprechen zudem von einer hohen Dunkelziffer. Der SKM in Frechen bietet individuelle Hilfe für Betroffene an.
Neuer Höchststand2660 Menschen wurden im Rhein-Erft-Kreis als wohnungslos gezählt
Eigentlich führte Harald K. ein ganz normales bürgerliches Leben: Er lebte mit seiner Frau in einer gemütlichen Dreizimmer-Wohnung und arbeitete als gelernter Maurer. Und doch fand er sich eines Tages schwerkrank in der Klinik wieder, ohne Job, ohne Krankenversicherung, ohne soziales Umfeld, ohne festen Wohnsitz — nach einer Abwärtsspirale, die mit einer plötzlichen Trennung begann und die über Jobs als Schwarzarbeiter mit illegalen Schlafplätzen auf Baustellen in die Notaufnahme des Frechener St. Katharinen-Hospitals führte.
In ganz NRW wurden 108.590 Menschen ohne Wohnung erfasst
Harald K. ist einer von vielen – von rund 2660 Menschen, die zum letzten Stichtag 30. Juni 2023 im Rhein-Erft-Kreis als wohnungslos erfasst wurden. Die erschreckende Zahl hat sich in den vergangenen Jahren im Kreis verdreifacht – die Dunkelziffer der Betroffenen wird von Fachleuten sogar noch als viel höher geschätzt.
Auch in ganz Nordrhein-Westfalen gab es mit 108 590 Menschen ohne Wohnung einen neuen Höchststand, im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies eine Steigerung um 40 Prozent – ausgelöst auch durch die Ukrainekrise. Etwas mehr als ein Viertel der Betroffenen ist unter 18 Jahren.
Als wohnungslos gilt, wer keine reguläre Wohnung mit einem eigenen Mietvertrag hat. Ein Schicksal, das alle und jeden treffen kann, so die Experten des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM). „Das Thema Wohnungslosigkeit ist definitiv in der Mittelschicht der Gesellschaft angekommen“, berichtet Karina Dreja, Abteilungsleiterin der SKM-Wohnungsnotfallhilfe in Frechen. Sie ist dort seit 2017 tätig, wechselt im Oktober nach Köln und arbeitet gerade ihren Nachfolger Dominik Schmitz ein, der aus dem Rhein-Sieg-Kreis nach Frechen wechselte.
Beide Experten schlagen Alarm: „Wohnungslosigkeit ist eine komplexe soziale Herausforderung, die als eine offene Wunde der Wohlstandsgesellschaft bezeichnet werden kann“, analysiert Schmitz. Wichtig sei, dass hinter jeder wohnungslosen Person eine individuelle Geschichte mit einzigartigen Bedürfnissen stehe.
So erzählen sie von einer jungen Familie mit zwei kleinen Kindern in Brühl, die durch Corona in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet und ihr Haus verlor. Von der zweifachen Mutter aus Frechen, die plötzlich mit ihren Kindern auf der Straße stand, weil ihr Mann mit seiner neuen Freundin in dem ehemaligen Familienhaus wohnen wollte. Oder der Hürther, der nach dem Tod seiner Frau in eine tiefe Depression fiel, alkoholabhängig wurde und wegen Schulden zwangsgeräumt wurde.
Individuelle Einzelschicksale von Menschen, die in der Notsituation oft psychisch überfordert sind und schnell immer mehr abrutschen – und dennoch oft versuchen, aus Scham den äußeren Schein zu wahren. „Jeder, der hinter uns an der Kasse im Supermarkt steht, könnte betroffen sein“, sagt Dreja, „den meisten Menschen sieht man das nicht an.“. Manche wohnen jeden Tag bei einem anderen Bekannten, finden kurzzeitig Unterschlupf bei Verwandten, schlafen an der Arbeitsstelle, in Notunterkünften oder Geschäftseingängen.
Um dies verhindern, ist der SKM besonders bemüht, Wohnungen zu erhalten. „Jede gerettete Wohnung ist ein gerettetes Leben“, so Dreja. Es werden unter anderem Nothilfe bei Miet- oder Energieschulden, Vermittlung bei Konflikten innerhalb der Familie oder mit dem Vermieter sowie Tipps zum Verhalten als Mieter vermittelt. Zudem, bietet der SKM eine Vielzahl von Hilfe an – in den Fachberatungsstellen in Frechen, Wesseling und Bergheim suchten 2023 1388 Menschen Rat. In den Notunterkünften in Bergheim und Brühl gab es zusätzlich 149 Beratungen. Ausreichend sei dies allerdings nicht, so die Experten.
Individuell zugeschnittene Hilfe ist nötig
Die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit erfordere nicht nur kurzfristige Lösungen, sondern langfristige Maßnahmen, um die strukturellen Ursachen anzugehen und allen Menschen ein sicheres Zuhause zu bieten. Der nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit der Bundesregierung würde die richtige Richtung einschlagen, aber es handele sich wie so oft nur um Leitlinien, die im Föderalismus untergingen, kritisiert Schmitz. Dem Aktionsplan stehe der Mangel an Wohnraum sowie die Heterogenität wohnungsloser Menschen entgegen. Der SKM versuche, mit seinen Diensten den Betroffenen auf ihre Problemlage zugeschnittene Hilfe zu bieten.
Und die fängt oft damit an, den Menschen wieder eine Postadresse einzurichten, dies gelang im Vorjahr in 405 Fällen. Allein in der Beratungsstelle Frechen kommen so mehr als 4000 Briefe im Jahr an, die die Hilfesuchenden dort in Empfang nehmen und bei Bedarf gemeinsam bearbeiten können. Ein erster Schritt zurück ins Leben, denn Karina Dreja weiß: „Jeder nicht geöffnete Brief ist ein Schritt abwärts.“
Harald K. sind mithilfe des SKM Schritte aufwärts gelungen: Er wurde wegen seiner gesundheitlichen Probleme früh verrentet und hat in Frechen eine kleine, einfache Wohnung gefunden.