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„Überall herrscht Stillstand“Warum sich die Menschen im Kerpener Süden vernachlässigt fühlen

Lesezeit 7 Minuten
Die Türen des alten Rewe-Gebäudes, davor steht ein Mülleimer mit Fast-Food-Abfällen.

Fast Food für unterwegs statt frische Lebensmittel: Die Räume des ehemaligen Rewe am Türnicher Marktplatz stehen immer noch leer.

Nicht nur die vielen Probleme sind es, die die Menschen in Türnich, Brüggen und Balkhausen stören. Sie wollen schlicht nicht mehr ignoriert werden.

Mittags ist im Café Klein in Balkhausen nicht viel los. Drei Männer sitzen an den Tischen. Einer von ihnen ist der BBK-Stadtverordnete David Held, der sich mit Weck und Kaffee stärkt. „Wir in Türnich, Balkhausen und Brüggen werden immer vergessen“, sagt Held. „Dabei gibt es hier mindestens so viel zu tun wie in den großen Stadtteilen von Kerpen. Vielleicht sogar mehr.“ Der BBK-Stadtverordnete lebt selbst in Türnich. Er kennt die Probleme der Menschen in den drei Orten, weil er die Menschen kennt. Was das bedeutet, will Held auf einem Rundgang zeigen.

Balkhausen, Brüggen und Türnich - oder BBT, wie sie abgekürzt genannt werden - sind wie ein eigenes Dorf in der Stadt Kerpen. Es gibt ein Freibad, zwei Grundschulen, ein Schloss und mit der Erfthalle die größte Veranstaltungshalle in der Kolpingstadt. Die Menschen sind selbstbewusst. Sie verstehen sich als Balkhausener, Brüggener oder Türnicher, weniger als Kerpener.

Die Menschen warten auf einen Aldi

Am Nebentisch im Café Klein unterhält sich Frank Feil mit seinem Vater Heinrich. Es geht um den Marktplatz in Türnich. Seit Rewe seine Filiale am Marktplatz dichtgemacht habe, gebe es keinen Nahversorger mehr, sagt Feil. „Ältere Leute wie mein Vater können nicht bis nach Brüggen laufen, wenn sie einkaufen wollen“, sagt Feil. „Nur der türkische Supermarkt hilft noch, damit die Leute wenigstens ein bisschen Obst und Gemüse kriegen.“

Eigentlich sollte ein Aldi nach Türnich kommen. Doch die Gespräche mit der Stadt scheiterten an 20 Zentimetern Parkplatz – Aldi forderte eine Standardlänge von 2,70 Metern für einzelne Parkplätze, die Stadt ließ nur 2,50 Meter zu. Wenn Held daran denkt, ärgert er sich noch immer. „Die Stadt muss sich auch mal bewegen“, sagt er. „Es gibt zu viele Restriktionen für Investoren. Kein Wunder, dass überall Stillstand herrscht.“

Eine mit Graffiti beschmierte Tafel.

Steckbriefe vermisster Katzen und Graffiti sind überall in Balkhausen, Brüggen und Türnich zu finden. Diese Tafel war ursprünglich für Ankündigungen gedacht.

Auf dem Weg von Balkhausen nach Türnich geht es die Heerstraße entlang. An Straßenlaternen hängen Steckbriefe vermisster Katzen. Schaukästen, die mal für Ankündigungen gedacht waren, sind voller Graffiti. Auf der Heerstraße ist wie immer viel Verkehr, die Bürgersteige sind trotz des sonnigen Wetters leer. Es riecht nach Gyros und Döner.

Auf der nur knapp einen Kilometer langen Strecke gibt es mehrere Restaurants, griechische und türkische Imbissbuden. Ihnen stehen zwei leere Mehrfamilienhäuser gegenüber, deren Vorgärten verwildern. Der Westwind treibt die Pollen der Disteln in die Lokale auf der anderen Straßenseite. Eines der Häuser hätte abgerissen und gegen ein neues ausgetauscht werden sollen. Die Pläne eines Investors hätten es aber größer gemacht als das Kirchenschiff von St. Rochus. Weil das nicht geht, baut der Investor jetzt im Hinterhof. Das leere Gebäude an der Straße bleibt.

Ein leerstehendes Haus an der Heerstraße.

An der Heerstraße stehen leere Häuser, gebaut wird im Hinterhof.

Trotz Wochenmarkt ist auch auf dem Marktplatz wenig los. Für den Wochenmarkt haben sich zwei SPD-Politikerinnen eingesetzt, als das endgültige Aus für den Aldi feststand. Auf einer Bank sitzt ein Mann, neben ihm drei leere Bierflaschen. „David, David!“, ruft er, als er Held sieht. Der Politiker steckt ihm etwas Kleingeld zu. Auch der Kleidungsverkäufer auf Marktplatz, ein Mann mit Turban und langem weißen Bart, grüßt Held. Ein kurzes Gespräch über die Familie folgt.

Auf dem Marktplatz in Türnich unterhält sich David Held (BBK) mit einem Verkäufer und Anwohnerin Sybille Fischer.

Auf dem Marktplatz in Türnich unterhält sich David Held (BBK) mit einem Verkäufer und Anwohnerin Sybille Fischer.

Währenddessen sucht Sybille Fischer nach einer neuen Hose. Eigentlich hat sie gute Laune. Wenn sie aber an den Zustand von BBT denkt, wird sie wütend. „Hier sieht es aus wie in einem Schweinestall. Überall gibt es Mäuse und Ratten“, sagt Fischer. „Aber die Leute von der Stadt, die von ganz oben, die sieht man hier nie.“ Moos und Grass wachsen zwischen dem Marktplatzpflaster, Läden gibt es nur noch drei. Die Eisdiele hat zu, auch die Fahrschule. Daneben liegen die leeren Räume des früheren Rewe, in dem noch die grün-weißen Notausgangsschilder leuchten.

Die im Mai 2023 gesprengte Kreissparkassenfiliale ist immer noch abgesperrt mit Sperrholz und Warnbändern. Um Geld abzuheben, gibt es eine mobile Filiale auf dem Wochenmarkt. Für alles andere ist die Sparkasse provisorisch in die alten Räume der Volksbank gezogen, die Türnich schon vor langer Zeit verlassen hat.

Noch immer sichert ein Bauzaun die Sparkassenruine am Türnicher Marktplatz.

Noch immer sichert ein Bauzaun die Sparkassenruine am Türnicher Marktplatz.

BBT steht mit 10.911 Einwohnern für ein Siebtel der Kerpener. Zum Vergleich: Aus Sindorf kommen doppelt so viele Menschen. Die drei großen Stadtteile Kerpen, Horrem und Sindorf tendieren nach Köln – auch wegen der guten Verkehrsbindung. Wer hingegen aus BBT kommt, bleibt meistens auch hier. Nur: Viel gibt es in BBT nicht mehr zu tun.

Erst vergangenes Jahr hat die Kultkneipe Wunderbar Konsum in Balkhausen dicht gemacht, in der der exzentrische Wirt Andreas Weihrauch Heuschrecken, Kölsch und Live-Musik serviert hat. Für Kultur bleibt noch die Erfthalle. Doch Türnichs kulturelles Zentrum liegt wie jedes Jahr monatelang brach. Neun Veranstaltungsplakate schmücken ihren Eingang. Keine der Veranstaltungen findet in der Erfthalle statt. Held lacht. „Die Erfthalle ist unser Juwel“, sagt er. Die Fassade bröckelt. Ein Aufkleber auf dem Fenster weist darauf hin, dass der Konsum von Cannabis in Hallennähe verboten ist. Daneben liegen im Gebüsch ein paar leere Flaschen Korn.

2021 traf das Erft-Hochwasser auch Türnich und Brüggen

Wenn vom Hochwasser 2021 die Rede ist, denken die Menschen an Erftstadt, an den Kreis Euskirchen oder das Ahrtal. Dabei hat das Hochwasser nur wenige Meter von der Erfthalle entfernt auch Türnich getroffen - wenn auch nicht ganz so stark. „Die Straßen standen unter Wasser, die Kanäle waren voll. Aus den Toiletten kam - das muss ich jetzt so deutlich sagen - die Scheiße hoch“, sagt Anwohner Wilhelm Lessenich.

„Wir sind am Ende zurechtgekommen. Anerkennung hätten wir uns trotzdem gewünscht. Fast alle haben hier den Bürgermeister gewählt, ich fand ihn sympathisch. Aber er als er dann beim Hochwasser nicht zu uns kam, hat uns das enttäuscht“, sagt Lessenich. Dank des Einsatzes der Bürger sind die Spuren des Hochwassers in BBT nicht mehr zu sehen. Auch der Fußballverein Spvg BBT hat nach vier Jahren seinen zerstörten Platz wiederaufgebaut. Doch der Weg dahin war für den Verein steinig: Ständig wechselten aus Personalmangel die Ansprechpartner bei der Stadt, Hilfen vom DFB und vom Land NRW ließen auf sich warten.

Die Stadtverordneten Annetta Ristow und David Held vor dem Rewe in Brüggen.

Annetta Ristow (Linke) und David Held (BBK) stehen an unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums. Ihre Ziele im Ortsteil Brüggen sind aber gleich.

Im Brüggener Rewe macht Held einen Stopp, um sich Kaffee zu kaufen. Der Brüggener Rewe ist eigentlich der Türnicher - mit dem neuen Standort wollte sich das Unternehmen verjüngen und vergrößern. Am Eingang des Markts trifft Held Annetta Ristow, die beiden umarmen sich zur Begrüßung. Die Linken-Stadtverordnete kauft gerade ein.

Eigentlich stehen beide auf unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums. Doch geht es um das Brüggener Äquivalent zum Türnicher Marktplatz, sind beide einer Meinung. „Mit dem Denkmalplatz auf der anderen Straßenseite muss endlich etwas passieren“, sagt Ristow. „Rewe Richrath hat der Stadt schließlich 25.000 Euro zur Verfügung gestellt, um den kleinen Park zu verschönern.“ Das war bereits 2019. Ristows Anfrage im Juli bügelte die Verwaltung mit der Begründung ab, dass es keinen Landschaftsarchitekten gebe, um das Projekt umzusetzen.

Einen schöneren Denkmalplatz wünscht sich auch Jan Pompey. Für ein Telefonat wollte er sich auf eine Parkbank zurückziehen. Doch die Bank hat keine Lehne mehr. Jetzt steht Pompey vor dem Rewe. „Die Stadt muss hier mal ein bisschen Geld investieren. Und wenn sie nur die Löcher stopft, damit die Älteren mit ihrem Rollator nicht immer hängenbleiben.“ Mit der bisherigen Pflege ist Pompey alles andere als zufrieden. Er zeigt auf Rosenbüsche im Park, die niedergemäht wurden. „Wer macht sowas? Man sieht doch sofort, dass die Rosen kein Unkraut sind.“

Am Nachmittag ist noch immer viel Verkehr auf der Heerstraße. Bezirkspolizist Frank Schuppener dreht jetzt seine Runden. Auch der Polizeihauptkommissar hat eine Ecke in BBT, die ihm Sorgen bereitet: eine scharfe Kurve an der Brüggener Straße. „Wer hier Richtung Gymnich fährt, sieht weder den Gegenverkehr noch parkende Autos“, sagt Schuppener. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas Schlimmes passiert.“

Das einzige, was aus Sicht von Schuppener helfen könnte, sind eingezeichnete Parktaschen. Er wolle den Anwohnern damit nicht ihre Parkplätze nehmen, sagt Schuppener. „Aber es geht hier um die Verkehrssicherheit - auch um die der Kinder.“ 2023 war bereits ein Kind auf der Brüggener Straße angefahren worden. Damals kam der Junge mit einem verstauchten Fuß davon.

Auch Held hat schon vor Gefahren auf der Brüggener Straße gewarnt. Erfahren hat er von dem Problem auf einem Spaziergang. Anwohner haben es ihm erzählt, weil sie ihn kennen.