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Lehrer in Rhein-Erft alarmiert„Grundschulkinder empfinden es oft als normal, handgreiflich zu werden“

Lesezeit 8 Minuten
Zwei Schüler prügeln sich auf dem Schulhof. Das Foto wurde gestellt.

Zwei Schüler prügeln sich auf dem Schulhof. Das Foto wurde gestellt.

Gewalt und Mobbing sind kein Phänomen mehr nur an weiterführenden Schulen. Auch Lehrerinnen und Lehrer werden zunehmend Opfer.

An den Schulen hat Gewalt unter Kindern und Jugendlichen zugenommen. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) hat 1000 Lehrerinnen und Lehrer zu ihren Erfahrungen im Schulalltag befragt. 44 Prozent der Lehrer haben den Eindruck, dass körperliche Gewalt wie Tritte und Schläge zugenommen haben. 56 Prozent der Lehrer erleben eine Zunahme von psychischer Gewalt wie Beleidigungen, Beschimpfungen und Mobbing. Darüber hat Jörn Tüffers mit Sandra Zieße-Junghans und Johannes Schuck vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) im Rhein-Erft-Kreis gesprochen.

Gewalt und Mobbing an Schulen – handelt es sich lediglich um Phänomene an weiterführenden Schulen?

Sandra Zieße-Junghans: Dieses Thema ist nicht neu und war schon immer ein Phänomen in allen Schulformen.

Was erleben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen an den Grundschulen?

Zieße-Junghans: Unsere Kolleginnen und Kollegen berichten uns, dass Kinder treten, schlagen und beißen. Das passiert im Spiel zum Beispiel beim Fußball aus Emotionen heraus, aber auch teilweise aufgrund verschiedener Verhaltensstörungen von Kindern.

Was sind in der Regel Auslöser dafür?

Zieße-Junghans: Beleidigungen von Kindern führen in Kindern zu Wutausbrüchen, zum Beispiel sagt ein Kind, nachdem es ein anderes Kind in den Bauch geboxt hat: Der hat aber „Clown“ zu mir gesagt. Daran sind Eltern nicht ganz unschuldig. Sie sagen ihren Kindern auch häufig: „Wenn du geärgert wirst, dann schlag zurück.“ Das nehmen die Kinder wörtlich und fühlen sich darin bestärkt. Kinder empfinden es oft als selbstverständlich, handgreiflich zu werden.

Johannes Schuck: Auch gegen Lehrkräfte und Erwachsene auch im Bereich des Offenen Ganztags werden die Kinder immer distanzloser. Fast jede Lehrkraft hat leider dazu schon Erfahrungen gemacht. Gewalt gegen Lehrkräfte, auch durch Eltern in Form sehr scharf formulierter E-Mails und direkter Bedrohungen sind keine Seltenheit.

Auf dem Foto ist Johannes Schuck zu sehen. Er ist beim VBE für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Johannes Schuck ist Pressesprecher des VBE.

Teilen Sie die Beobachtung, dass sich das Klima nach Corona an den Schulen verschlechtert hat?

Zieße-Junghans: Die Distanzlosigkeit und Skrupellosigkeit nimmt immer mehr zu. Ob das unbedingt was mit Corona zu tun hat, sei dahingestellt, aber der Zuwachs ist definitiv zu beobachten.

Schuck: Durch den Lockdown und die „runtergefahrene“ Zeit danach – Klassenfahrten und außerunterrichtliche Ausflüge fielen teilweise jahrelang aus – ist die persönliche Interaktion „in Präsenz“ zwischen Kindern verlernt beziehungsweise erst gar nicht erlernt worden.

Welche Erklärung haben Sie dafür?

Zieße-Junghans: Eltern haben immer weniger Zeit für die Erziehung durch die Pflicht, arbeiten zu gehen, um Lebenshaltungskosten tragen zu können. Dadurch ist die nötige Unterstützung nicht da, der Medienkonsum der Kinder ist dadurch erschreckend groß, um Kinder zum Beispiel nach der Arbeit ruhig zu stellen, da keine Kraft mehr da ist, Kinder selbst zu „bespaßen“. Dabei wird – wie mir viele Kolleginnen und Kollegen bestätigen – zu wenig kontrolliert, was auf dem Tablet/Smartphone gemacht wird oder im Fernsehen wirklich geschaut wird.

Liegen die Probleme ausschließlich im Elternhaus?

Zieße-Junghans: Nein. In zahlreichen Schulen gibt es viele Kinder in der Klasse mit vielen eigenen Problemen, zu wenig Personal, um dem allen gerecht zu werden. Zudem sind die Räume auch viel zu eng, dadurch entsteht automatisch Aggressivität, auch auf dem Schulhof ist oft zu wenig Platz.

Das Foto zeigt Sandra Zieße-Junghans. Sie ist Vorsitzende des VBE im Rhein-Erft-Kreis.

Sandra Zieße-Junghans ist Vorsitzende des VBE im Rhein-Erft-Kreis.

Schuck: Viele Kinder haben den erhöhten und unkontrollierten Medienkonsum aus der Coronazeit beibehalten. Das erlebe ich bei meinen eigenen Töchtern. Wie auch die Erwachsenen treffen sich die Kinder weniger „physisch“, sondern kommunizieren verstärkt im Spieler-Chat und Online-Chats. Den Kindern fehlt dadurch die Übung im Lesen von Gesten, Mimik und Körpersprache allgemein. Diese „soziale Inkompetenz“ führt auf dem Schulhof und im Klassenzimmer zu Missverständnissen und daraus resultierenden Konflikten.

Wie häufig sind auch Lehrerinnen und Lehrer von Gewalt und Mobbing betroffen?

Zieße-Junghans: Mir berichten Kolleginnen und Kollegen, dass sie täglich mehrfach selbst betroffen sind, indem sie die Konflikte in der Unterrichtszeit aufarbeiten müssen. Es kommt zu oft vor, dass Kinder die Lehrkräfte schlagen und treten. Auch verbale Gewalt ist oft mit dabei. Eltern sind leider oft auch distanzlos und üben verbale Gewalt aus. Auch Bedrohungen werden uns immer häufiger gemeldet.

Schuck: Auch in Klassen-Whatsapp-Gruppen von Eltern habe ich den Tonfall bei Äußerungen über Lehrkräfte als respektlos und unterirdisch erlebt.

Was unternehmen Schulen gegen diese Entwicklung?

Zieße-Junghans: Lehrkräfte nehmen an Fortbildungen teil. Auch das Bilden von Familiengrundschulzentren wäre eine Möglichkeit. „FGZ“ stellen demzufolge, wie der VBE NRW bereits mehrfach betont hat, eine Bereicherung der Bildungslandschaft in NRW dar, Chancengerechtigkeit herzustellen.

Schuck: „Familienzentren“ an Kindertagesstätten arbeiten in NRW seit vielen Jahren erfolgreich: Sie machen niederschwellige Beratungsangebote, haben eine ganzheitliche Sicht auf die Systeme „Familie“ und/oder „Lerngruppe“.

Zieße-Junghans: Wir als Verband fordern schon lange die Multiprofessionalität in Schulen. In jeder Schule sollte Schulsozialarbeit vor Ort angeboten und fest verankert werden, ebenso sind in den Grundschulen die sozialpädagogischen Fachkräfte und Multiprofessionelle Teams so hilfreich!

Wie groß ist der Faktor in der gesamten Entwicklung, dass immer mehr Kinder mit Migrationsgeschichte beschult werden?

Zieße-Junghans: Es kann hier kein Muster festgestellt werden, Gewalt ist wirklich grundsätzlich bei allen Kindern mit oder ohne Migrationsgeschichte feststellbar.

Schuck: Tatsächlich ist die Realität an sehr vielen Grundschulen im Rhein-Erft-Kreis so, dass die Mehrheit der Kinder Migrationshintergrund hat. Hier ist eine solche Unterscheidung obsolet.

Erfahren die Schulleitungen genügend Unterstützung von den jeweiligen Schulverwaltungen?

Zieße-Junghans: Zuerst einmal versucht jede Schule, diese Probleme zu lösen. Schulsozialarbeiter müssten von dem Schulträger eingestellt werden. Das dringend benötigte Personal kann auch die Schulverwaltung nicht herbeizaubern. Aber alle Problemanzeigen werden hoffentlich ernst genommen, und es ist weiterhin wichtig, dass die Schulleitungen und die Beschäftigten in der Schule jegliche Unterstützung erfahren, die nötig und möglich ist.

Schuck: Hier muss schulrechtlich getrennt werden zwischen den Städten, die die Schulträger aller Grundschulen im REK sind und dem Land NRW, das das „Lehrpersonal“ stellt. Das Land hat tatsächlich große Anstrengungen unternommen – leider auch wegen fehlender Lehrkräfte – andere wertvolle Professionen in die Grundschulen zu bringen. Auch manche Städte unterstützen als Schulträger mit eigenen Mitarbeitenden die Schulsozialarbeit in den Grundschulen. Leider kürzen fatalerweise aktuell aber auch manche Schulträger, auch Städte in unserem Kreis genau diese Arbeit und schließen Einrichtungen wie Kinder- und Jugendtreffs wegen Geldmangels.

Ein Junge liegt auf dem Boden und schaut etwas in einem Tablet.

Die Lehrergewerkschaft beklagt, dass Eltern zu wenig kontrollieren, was ihre Kinder auf dem Tablet oder Smartphone machen oder was sie im Fernsehen wirklich schauen.

Es heißt, dass nur wenige Schulen erfassen Gewaltvorfälle systematisch. Trifft dies zu?

Zieße-Junghans: Leider ist es oft so, dass manche Übergriffe schon fast „normal“ sind und der bürokratische Aufwand und die nötigen Gespräche nicht geführt werden, da keine zeitliche und energetische Ressource mehr vorhanden ist. Der VBE wünscht sich, dass Kolleginnen und Kollegen in einer belastenden Situation eine erste Hilfe und Einschätzung bekommen. Insbesondere die Beschäftigten, die sich selbst die Schuld an der Gewalterfahrung geben und sich unsicher sind, ob und mit wem sie sprechen sollen. Fakt ist: In jedem Fall sollte die Schulleitung informiert werden, damit das Ausmaß ersichtlich wird und die Vorfälle gegebenenfalls an die Dienststelle und den Schulträger weitergeleitet werden können.

Schuck: An meiner Schule gab es im Rahmen eines „Streitschlichtungskonzeptes“ die Dokumentation aller Vorfälle, die die Kinder „behandelt“ wissen wollten. Die Uni Bonn hat mit diesen anonymisierten Protokollen geforscht. Oft ging es um fehlende Anerkennung und Sozialkontakte. Auch nach heftigen Konflikten wünschten sich die „Opfer“ vom „Täter“, dass „wir zusammen spielen“.

Wie offensiv gehen Schulen mit der Problematik um? Schließlich könnten das Image einer Schule leiden und Anmeldezahlen zurückgehen.

Zieße-Junghans: Das ist durchaus möglich! Leider bekommt eine Schule, die offensiv mit Problemen umgeht, dann ein schlechtes Image. Wir wären dafür, dass das Thema aus der Tabuzone herausgeholt wird und somit jede Schule und alle Beschäftigten in der Schule offensiv und transparent damit umgehen. Dann würde man auch merken, man ist mit dem Thema nicht alleine.

Schuck: Mir sind Schulen, die von sich behaupten, sie hätten keine Probleme mit Gewalt und Mobbing, sehr suspekt. Aber nur Schaufensterkonzepte reichen auch nicht. Gewaltfreiheit muss täglich vorgelebt werden. Brüllen sollte nicht dazugehören. Corona hat aber auch die Belastbarkeit von Erwachsenen runtergesetzt …

Was stimmt Sie trotz aller Entwicklungen hoffnungsfroh, dass die Gewaltspirale zurückgedreht werden kann … oder haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen bereits kapituliert?

Zieße-Junghans: Wir haben so großartige Kolleginnen und Kollegen, die ihren Beruf lieben. Aber wir nehmen auch wahr, dass immer mehr unter den Bedingungen leiden. Viele werden krank und ebenso nehmen wir wahr, dass auch viele überlegen, so früh es geht, aus dem Dienst auszuscheiden. Das ist gerade bei dem Lehrkräftemangel fatal! Personalbindung müsste hier genauso wichtig genommen werden wie Personalgewinnung. Wichtig wären hier dann die notwendigen Unterstützungsangebote durch: Schulsozialarbeit, Multiprofessionalität in jeder Schule sowie die Unterstützung von Polizei und sozialen Einrichtungen. Zudem Personal und höhere Bildungsausgaben. NRW ist leider auf dem letzten Platz in Deutschland.

Schuck: Ich hoffe sehr, dass die Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft der Kinderärzte und anderer Fachorganisationen verhindern werden, dass es noch mal solche gravierenden „Isolationen“ des Soziallebens von Kindern und Jugendlichen geben wird, wie in der Coronazeit. Der Schaden an den Kindern war möglicherweise höher als der Nutzen. Wie wir leider aber erst jetzt wissen …


Sandra Zieße-Junghans ist Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) im Rhein-Erft-Kreis. Zudem ist sie Personalratsvorsitzende für Grundschulen im Kreis und Personalrat auf Bezirksregierungsebene Köln.

Johannes Schuck ist Öffentlichkeitsarbeiter des VBE-Kreisverbands. Beruflich ist er in der Personalvertretung freigestellt für die schultägliche Beratung von Grundschulkräften (meist bei Krankheit) und war vorher 18 Jahre Grundschulleiter in Erftstadt. Er hat zwei Töchter im Schulalter.

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) vertritt als parteipolitisch unabhängige Gewerkschaft die Interessen von rund 164.000 Pädagoginnen und Pädagogen – aus dem frühkindlichen Bereich, der Primarstufe, den Sekundarstufen I und II und dem Bereich der Lehrkräftebildung.