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Alltag der RetterNotruf in Wesseling wird immer häufiger als „Blaulicht-Taxi“ missbraucht

Lesezeit 5 Minuten
Notfallsanitäterin Anna-Lena Altendorf (23) und ihr Kollege Rettungssanitäter Lukas Segschneider (25) im Rettungswagen

Im Rettungswagen verbirgt sich eine mobile Intensivstation.

Einige Anrufer in Wesseling missbrauchen den Notdienst, um Wartezeiten zu vermeiden. Das beobachten Rettungskräfte mit steigender Sorge.

„Kind-2“ heißt das Einsatzstichwort, bei dem die Anspannung für das gesamte Rettungsteam am höchsten ist. Denn dann werden direkt Notarzt und Rettungswagen angefordert. „Doch solche Einsätze sind zum Glück selten“, sagt Notfallsanitäter Steffen Trappmann. Seit 23 Jahren ist er im Rettungsdienst, seit zwölf Jahren auf der Feuerwache in Wesseling.

Zu seinen Aufgaben gehört es auch, den Notarztwagen zu fahren und das Equipment an Bord des Fahrzeugs regelmäßig zu checken. „Zumeist sind es internistische Notfälle, zu denen wir gerufen werden, wie Luftnot, Herzschmerz, Kreislaufprobleme oder Schlaganfall“, berichtet er. Das bestätigt auch der zuständige Notarzt Benjamin Marx (36). Zusammen sind sie ein Team, das in der Regel angefordert wird, wenn sich Menschen aufgrund von Unfällen oder Erkrankungen in akuter Lebensgefahr befinden.

Im Inneren des Notarztwagens hört man das Martinshorn nur gedämpft

Tagsüber zwischen 8 und 16 Uhr wird der diensthabende Notarzt auf dem Weg zum Einsatzort immer noch im Dreifaltigkeitskrankenhaus abgeholt. Mit Blaulicht und Martinshorn geht es von dort direkt weiter zur Einsatzstelle. Ab 16 Uhr ist der Notarzt mit auf der Feuerwache. Auch er arbeitet, wie die Notfallsanitäter und Feuerwehrleute, in einer 24-Stunden-Schicht.

Ab 20 Uhr fährt der Wesselinger Notarztwagen auch die Einsätze im Stadtgebiet Bornheim. In den meisten Fällen ist der Rettungswagen schon vor Ort, wenn der Notarzt eintrifft. Über Funk haben er und der Notfallsanitäter jedoch schon erste Informationen zum Grad der Verletzungen beziehungsweise Erkrankung des Patienten erhalten. Trappmann fährt zügig, aber keineswegs waghalsig. Seine Devise lautet: „Sicher ankommen.“ Der außerhalb des Notarztwagens oft laute und schrille Ton des Martinshorns dringt nur sehr gedämpft ins Fahrzeuginnere.

Chef der Feuerwache schätzt, dass nur die Hälfte aller Rettungsfahrten notwendig sind

Aufgrund der kompakten städtischen Struktur schaffen es der Rettungswagen und Notarzt in den meisten Fällen schon binnen sechs Minuten zu jedem Einsatzort im Stadtgebiet. „Es handelt sich jedoch nur bei einer von sechs bis acht Alarmierungen um wirkliche Notfälle, bei denen es Spitz auf Knopf steht“, sagt der Notarzt.

Der Chef der Wesselinger Feuerwache, André Bach, schätzt, dass etwa 50 Prozent aller Notarzt- und Rettungsfahrten nicht nötig wären. Die Gründe für die häufigen Alarmierungen seien allerdings vielschichtig. Alle Notrufe gehen im Rhein-Erft-Kreis bei der Leitstelle in Kerpen ein. Dort sitzen die Disponenten. Sie sind ausgebildete Feuerwehrleute und Notfallsanitäter.

André Bach, Chef der Feuerwehr Wesseling.

André Bach ist Chef der Feuerwehr in Wesseling.

Zu ihren Aufgaben gehört es auch, nach den Symptomen sowie dem Allgemeinzustand und der Verfassung des Patienten zu fragen. „Das Problem ist einfach, dass es zwischen der am Telefon geschilderten und der dann am Einsatzort aufzufindenden Situation oft eine große Diskrepanz gibt“, erklärt der Notarzt. Unter anderem könnten Sprachprobleme und auch ein falsches Abschätzen der Situation vor Ort Gründe dafür sein.

Manche Menschen missbrauchen den Notruf, um lange Wartezeiten zu umgehen

Es kommt aber auch vor, dass Menschen ganz bewusst den Notarzt in den Abend- und Nachtstunden sowie an den Wochenenden anfordern, weil sie sich nicht ins Wartezimmer des hausärztlichen Bereitschaftsdiensts setzen oder keine langen Wartezeiten beim Facharzt in Kauf nehmen wollen. „Solche Arztbesuche sind ja dann auch immer mit eigenem Aufwand verbunden“, erklärt Bach. Dazu gehöre zum Beispiel, dass die Patienten die An- und Abfahrt selber organisieren müssen.

„Wir fahren mit einer hochmodernen und großartigen Ausstattung, mit der wir Menschen in Not das Leben retten können, und werden unter anderem zu Patienten mit Rückenschmerzen gerufen, die bereits drei Wochen andauern, oder zu einer Schnittwunde am Finger, die ohne Probleme in der Ambulanz behandelt und genäht werden könnte. Nur müssen dort die Patienten dann auch schon mal ein bisschen länger warten“, sagt der Notarzt.

Finanziell betrachtet kostet der Einsatz von Notarzt und Rettungsdienst rund 940 Euro – 450 Euro kostet der Rettungswageneinsatz, 490 Euro der des Notarztwagens in Wesseling. „Für eine Schnittwunden-Behandlung in der Ambulanz im Krankenhaus am Finger bezahlen die Krankenkassen den Krankenhäusern hingegen eine Pauschale von etwa 35 Euro“, weiß Marx.

„Irgendwann kommt der Punkt, an dem das System kollabiert“

Obwohl sowohl André Bach als auch der Notarzt und der Notfallsanitäter ihre Arbeit wirklich mögen, stimmt sie dieser wachsende „All-inclusive-Gedanke“ in der Bevölkerung zunehmend besorgt. Denn die Zahl der Alarmierungen und der sogenannten „Baulicht-Taxifahrten“ steige seit Jahren kontinuierlich.

Alleine in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 seien Notarzt, Rettungsdienst und Krankentransporter bereits 2059 Einsätze gefahren. Das sind durchschnittlich rund 23 Einsätze am Tag. „Irgendwann kommt der Punkt, an dem das System kollabiert – an dem die Einsätze einfach nicht mehr zu leisten sind“, befürchtet Trappmann.

Trotzdem: „Im Zweifel ist es auf jeden Fall immer besser, die 112 zu wählen“, sagt er, und der Notarzt bestätigt das. Beinschmerzen zum Beispiel könnten eine einfache Muskelzerrung, aber auch eine Thrombose, ein akuter Verschluss, bedeuten.


Kompakt, aber vollständig: Die mobile Intensivstation

In Taschen und Schubladen verpackt ist im Notarztwagen eine kleine Intensivstation mit sämtlichen Gerätschaften griffbereit verstaut. Täglich wir das Equipment gecheckt: EKG, Reanimationsgerät, Sauerstoffgerät aber auch Medikamente, Verbandszeug und Wirbelsäulen-Stabilisationen. Sogar Kühl- und Wärmefächer sind für die verschiedenen Medikamente vorhanden.

Auch spezielle Behälter, in denen abgetrennte Gliedmaßen aufbewahrt werden, und spezielle Dosen für ausgefallene Zähne sind an Bord, ebenso wie Patientendecken und Schutzkleidung mit Helmen für das Rettungsteam. Sämtliche Gerätschaften im Notarztwagen sind dort auch mit der Batterie verbunden. Das Rettungsdienstlager der Feuerwache befindet sich direkt neben den Garagen der Rettungsfahrzeuge. So können die Besatzungen auf kurzem Weg das Material auffüllen.