KZ-Wächter vor GerichtDer Sachsenhausen-Prozess war einer der größten in Bonn
- Der Schwurgerichtssaal des 1850 gegründeten Bonner Landgerichts, dessen Gebäude von 1857 bis 1859 errichtet worden ist, wird saniert; er steht unter Denkmalschutz.
- Aus diesem Anlass blickt Dieter Brockschnieder auf spektakuläre Verfahren zurück, die in dem Saal stattgefunden haben. Heute: der Sachsenhausen-Prozess.
Bonn – Man nannte sie „Eiserner Gustav“ und „Pistolen-Schubert“. Der eine Beiname klingt nach dem Roman von Hans Fallada über den Berliner Droschkenkutscher Gustav Hartmann, der im April 1928 aus Protest gegen den Niedergang seines Gewerbes mit einem Pferdefuhrwerk von Berlin nach Paris fuhr und wegen seines Durchhaltewillens „Eiserner Gustav“ gerufen wurde. Der andere könnte eine Figur aus einem heiteren Western sein. Doch die Männer, von denen hier die Rede ist, waren KZ-Wächter und grausame Mörder.
Gustav Sorge bekam den Spitznamen Anfang der 30er Jahre in Osnabrück, weil er ein brutaler Straßenschläger war; bei Wilhelm Schubert saß die Knarre locker, er war wegen seiner Schießwütigkeit gefürchtet. Die beiden SS-Männer mussten sich vom 13. Oktober 1958 bis zum 6. Februar 1959 vor dem Bonner Landgericht verantworten.
Eine „Beschwörung des Grauens“ im historischen Schwurgerichtssaal Bonn
Die Hauptverhandlung fand im damals schon historischen Schwurgerichtssaal statt, einem Raum mit dunkelbraunem Holzgebälk und hohen Fenstern mit Buntglasscheiben. Eine „Beschwörung des Grauens“ nannte ein Kommentator der im Kino gezeigten „Neuen Deutschen Wochenschau“ (NDW) diesen Prozess. In den Aufnahmen der NDW vom 14. November 1958 bis 1964 waren in Gerichtssälen noch Filmkameras zugelassen, sind die Täter zu sehen: Sorge mit ausgemergeltem Gesicht, Schubert im dunklen Anzug mit weißem Einstecktuch. Über ihnen an der Wand hängt ein Kreuz, der Kopf der Christusfigur umgeben von Stacheldraht.
Kurz bevor die Kamera auf dieses Motiv schwenkt, werden in der nur wenige Minuten langen Wochenschau Archivbilder aus dem Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen gezeigt: Häftlinge nach der Befreiung im April 1945, aber immer noch hinter Stacheldraht. 200.000 Menschen waren dort seit 1936 gefangen gehalten worden. „Hier wurde das Recht verfolgt, das Unrecht triumphierte“, klingt es aus dem Off. Die beiden Angeklagten gehörten zur Wachmannschaft des Lagers.
Konzentrationslager Sachsenhausen
Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde 1936 unweit von Oranienburg (bei Berlin) errichtet. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden dort rund 200 000 Menschen inhaftiert. Einer von ihnen war der Bonner Lothar Erdmann, ein Schulfreund des 1914 gefallenen Malers August Macke, der 1916 dessen Witwe Elisabeth Macke geheiratet hatte. Erdmann, ein christlicher Gewerkschafter, wurde 1939 in das KZ eingeliefert und ermordet.
Von August 1945 bis 1950 wurde Sachsenhausen als „Speziallager“ von der sowjetischen Militärmacht genutzt. Hier starb am 25. September 1946 der internierte Schauspieler Heinrich George, Vater von Götz George, der ebenfalls Schauspieler wurde – und unter anderem seinen eigenen Vater verkörperte. Heute befinden sich in Sachsenhausen ein Museum und eine Gedenkstätte. (dbr)
Gustav Hermann Sorge, 1911 als Sohn eines Landarbeiters in der Provinz Posen geboren, war gelernter Schmied. 1931 trat er der NSDAP und der SS bei, ab 1934 war er Aufseher im KZ Esterwege im Emsland. Im Juni 1938 wurde er zunächst als Blockführer dem nördlich von Berlin gelegenen KZ Sachsenhausen zugeteilt, wo er, keineswegs dumm und ein brutaler Sadist, wegen seiner Grausamkeit gefürchtet war und rasch Karriere in der SS-Hierarchie machte.
Wilhelm Karl Ferdinand Schubert wurde 1917 in Magdeburg geboren, war ein schlechter Schüler und machte eine Lehre als Schlosser. 1931 schloss er sich der NSDAP an und kam 1935 zur SS; im Mai 1938 wurde er nach Sachsenhausen versetzt.
Nach Kriegsende tauchten die beiden Männer zunächst unter. Sorge versteckte sich auf einem Bauernhof in Flamersheim bei Euskirchen, Schubert in Leipzig. Im März beziehungsweise August 1946 wurden sie von Militärpolizisten verhaftet und vor ein sowjetisches Militärtribunal gebracht. Es verurteilte die geständigen Angeklagten im ersten Sachsenhausen-Prozess am 1. November 1947 im Rathaus von Berlin-Pankow unter anderem wegen der Beteiligung an der Ermordung von 11.000 sowjetischen Kriegsgefangenen in der Genickschussanlage von Sachsenhausen zu lebenslanger Haft mit Zwangsarbeit, die sie im sowjetischen Straflager Workuta nördlich des Polarkreises leisten mussten.
Bundeskanzler Konrad Adenauer schaltete sich ein
Als Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 in Moskau die Freilassung von rund 9000 deutschen Kriegsgefangenen erreicht hatte, zählte zu den Spätheimkehrern auch eine Gruppe von 749 „Nichtamnestierten“, die zwar aus der Gefangenschaft entlassen worden waren, auf Wunsch der Sowjets aber in Deutschland West und Ost bestraft werden sollten.
450 von ihnen passierten am 14. Januar 1956 im Interzonenzug die innerdeutsche Grenze bei Herleshausen, darunter Sorge und Schubert. Sie durften überraschend nach Hause, doch Adenauer, der Proteste der Sowjets und die internationale Aufmerksamkeit fürchtete, drängte die Justizbehörden, mit ihnen nicht „viel Federlesens“ zu machen. Das Amtsgericht Euskirchen stellte am 7. Februar 1956 Haftbefehle aus, und am gleichen Tag gingen Sorge und Schubert im Bonner Gefängnis in Untersuchungshaft.
Die Ermittlungen übernahm die Staatsanwaltschaft in Bonn, dem Sitz der Bundesregierung. Nach Vernehmung von 700 Zeugen klagte sie die Männer wegen Mordes und Beihilfe zum Mord vor dem Schwurgericht an. Ein dritter Angeklagter, der 50 Gefangene in Sachsenhausen persönlich getötet haben soll, erhängte sich am 13. Juli 1958 in seiner Zelle im Bonner Gefängnis am Annagraben. Die 45 Tage dauernde Hauptverhandlung unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor (entspricht heute dem Titel Vorsitzender Richter) Dr. Herbert Schroeder begann am 13. Oktober 1958.
Weitere Verfahren
Mord im KZ Kulmhof
Ein NS-Prozess begann am 26. November 1962 vor dem Landgericht Bonn. Zwölf Angeklagte wurden am 30. März 1963 wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord im KZ Kulmhof (heute: Chelmno/Polen) zu Zuchthausstrafen von 15 bis sieben Jahren verurteilt.
Mord im Ghetto von Krosno
Ein ehemaliger SS-Mann, der im Ghetto von Krosno (Polen) zwei Frauen und zwei Kinder erschossen hatte, wurde am 3. Juli 1973 vom Landgericht mit lebenslanger Haft bestraft. (dbr)
Insgesamt 161 Zeugen aus dem In- und Ausland waren geladen, 132 wurden gehört; zahlreiche Urkunden wie Sterberegisterauszüge und Lagerskizzen sowie Akten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses wurden in das Verfahren eingeführt, Dutzende von Medienvertretern berichteten.
Wer die mehrere Hundert Seiten lange, unter dem Aktenzeichen LG Bonn 8 Ks 1/58 zusammengefasste schriftliche Urteilsbegründung liest, findet nicht nur eine Aufschlüsselung des Systems der SS-Lager, sondern schaut in ein Kompendium unfassbarer Taten.
Die Angeklagten haben allein oder gemeinsam Häftlinge getötet, haben sie erschossen, erschlagen mit einer Suppenkelle, mit Knüppeln oder Holzlatten, haben ihre Opfer totgetreten oder so lange im eiskalten Winter, nur mit einem Hemd bekleidet, draußen stehen lassen, dass sie wenige Tage später an einer Lungenentzündung starben.
Ein Blinder, der sich in seiner Verzweiflung selbst die Augen ausgestochen hatte, wurde mit dem Worten, er sei nicht wert zu leben, umgebracht; einem Juden wurde gleich nach seiner Ankunft im Lager der weiße Bart angezündet und der 73-Jährige danach solange geschunden, bis er dahinsiechte. Ein überlebender Zeuge schilderte dem Gericht: „Ich habe die Hölle gesehen.“ Am 5. Januar 1959 legte Schubert schriftlich ein Generalgeständnis ab; für die Kammer hatte es lediglich „Papierwert“, da der Angeklagte von „geringer Intelligenz und mangelnder Reife“ und, anders als Sorge, gar nicht in der Lage sei, „an die Dinge heranzukommen“.
Vorsitzender Richter Schroeder nannte ihn einen „eitlen Tor“, der die Verbrechen auch begangen habe, um sich vor seinen Kameraden aufzuspielen und um von Vorgesetzten Auszeichnungen und Beförderungen zu erhalten. Menschen wie Schubert „waren die brauchbarsten Diener des NS-Regimes“, sagte der Landgerichtsdirektor. Sorge, der sich in seinem letzten Wort für seine Taten nicht entschuldigte, war nach Auffassung der Richter ein „gefühlloser Mörder“ und „eines der besten Werkzeuge der NS-Gewalthaber“.
Das Bonner Schwurgericht verurteilte die KZ-Wächter zu lebenslangen Haftstrafen
Am 6. Februar 1959 verkündete das Schwurgericht sein Urteil: Gustav Sorge wurde „im Namen des Volkes“ wegen Mordes, versuchten Mordes, Anstiftung und Beihilfe zum Mord sowie Totschlags zu 67-mal lebenslänglich Zuchthaus und Wilhelm Schubert zu 46-mal lebenslänglich Zuchthaus verurteilt, plus jeweils 15 Jahre Haft für weitere Straftaten.
Den beiden Angeklagten wurden die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit aberkannt. Sorge starb 1978 im Rheinbacher Gefängnis, Schubert wurde 1986, 69-jährig, aus der Haft entlassen. Er starb 2006, angeblich bis zuletzt ein Nazi.
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Was blieb von diesem Mammutverfahren? Das Gewerkschaftsblatt „Metall“ forderte damals, nicht nur „die Lumpenproletarier Schubert und Sorge“ müssten angeklagt werden, sondern „auch die intellektuellen Anstifter“. In Schreiben an die Staatsanwaltschaft Bonn fragten viele Schüler unter dem Eindruck der Medienberichterstattung: „Warum haben uns unsere Eltern und Lehrer das nicht gesagt?“ Ein Schlussstrich, so war in Zeitungskommentaren zu lesen, dürfe nicht gezogen werden.
Das wird er nicht. Wegen der Verbrechen im KZ Sachsenhausen laufen aktuell noch fünf Ermittlungsverfahren bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Neuruppin. Im Mai hat sie angekündigt, wegen Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen Anklage gegen einen 100 Jahre alten ehemaligen Wachmann erheben zu wollen.