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Versuchter Mord in KönigswinterStiefvater bestreitet Schüsse auf elfjähriges Kind

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Der Angeklagte am Freitag im Landgericht Bonn 

Bonn/Königswinter – Die Bilder in der Gerichtsakte zeigen drei kreisrunde, Blut umrandete Löchlein auf der nackten Brust eines Elfjährigen, in der Mitte der Wunden kleine schwarze Punkte. Auch das dunkle T-Shirt des Jungen weist Löcher auf. Seine Mutter hatte die Fotos am Abend des 8. April 2021 gemacht.

Ihr Sohn war am späten Nachmittag, als sie einen Corona-Impftermin wahrnahm, von zwei seiner jüngeren Geschwister und zwei Nachbarskindern, mit denen er draußen auf einer ruhigen Straße in Bockeroth gespielt hatte, zum Stiefvater nach Hause gebracht worden: Er weinte, blutete und musste von einem Spielkameraden gestützt werden.

Was war passiert? Der Mann hatte dem Jungen kurz nach Mittag eine Jacke angezogen und zum Spielen geschickt. Als er Stunden später zurückgebracht wurde, konnte er nicht erklären, was ihm widerfahren war: Der Autist kann nicht sprechen und macht sich seiner Umgebung nur durch Mimik und Handzeichen verständlich.

Verletzter Junge führte seine Mutter zu einer Baustelle

Gegen 16.48 Uhr holte der Stiefvater die in der Nähe wohnende Schwiegermutter zu Hilfe, und sie entdeckten in der leichten Sweatshirt-Jacke des Elfjährigen einen Blutfleck, zogen ihm das Hemd aus und sahen dann die rätselhaften Wunden, die sie desinfizierten und mit Pflaster verklebten. Als die Mutter heimkehrte, fragte sie ihren Sohn, wo er sich verletzt habe; er ging mit ihr zu einer Baustelle im Dorf, zeigte aber auf nichts Bestimmtes. „Vielleicht ist er beim Rollerfahren gefallen“, vermuteten die Eltern.

Es schien also erst mal alles gut. Der Kleine durfte mit den Geschwistern und den Nachbarskindern im Wohnzimmer einen Film gucken, dann gab es gegen 18 Uhr Abendbrot, aber der Verletzte mochte nichts essen, sackte plötzlich zusammen „und wurde blasser und blasser“, erinnert sich der Stiefvater.

Der 33-jährige Haustechniker muss sich seit Freitag vor dem Jugendschwurgericht des Bonner Landgerichts verantworten. Er soll die Schüsse abgegeben haben, indem er zwischen 13.35 Uhr und 15 Uhr drei Schüsse auf das Kind abgab, so die Staatsanwaltschaft. Sie wirft ihm schwere Misshandlung eines Schutzbefohlenen, gefährliche Körperverletzung und versuchten Mord durch Unterlassen vor, weil er dem Kind nicht geholfen habe.

Verteidiger: „Mein Mandant ist unschuldig“

Strafverteidiger Uwe Krechel weist die Anklage vehement zurück. „Mein Mandant ist unschuldig, es gibt keine Beweise, keine Indizien“, sagt er vor Prozessbeginn.

Der Stiefvater erzählt in seiner Einlassung weiter, die Familie habe den Jungen nach dem Schwächeanfall auf die Couch gelegt und gegen 19.45 Uhr einen Rettungswagen gerufen. Die Sanitäter brachten ihn in die Kinderklinik Sankt Augustin, die Ärzte dort diagnostizierten auf dem Röntgenbild die Projektile, eines hatte Lunge und Zwerchfell perforiert und war haarscharf an der Milz vorbeigegangen. Es bestand Lebensgefahr, das Kind wurde durch eine Notoperation in der Uni-Klinik Bonn gerettet.

Die entscheidende Frage in dem Verfahren: Wie ist es zu den Schussverletzungen bei dem Elfjährigen gekommen? Für die Staatsanwaltschaft ist klar: Der Stiefvater hat mit seinem Luftdruckgewehr auf ihn geschossen. Das belege ein ballistisches Gutachten des Landeskriminalamts.

Luftgewehr gehört dem Angeklagten

Verteidiger Krechel nennt dieses Papier mal „ein Bananengutachten“, dann „Murks“, dann „ein Pamphlet“, das auch Monate nach der Tat dem Gericht nicht vollständig vorliege – „eine Frechheit!“ Der 33-Jährige hat die Waffe etwa ein halbes Jahr vor der Tat gekauft und bewahrte sie im Keller in einem Schrank auf, der stets abgeschlossen sei, der Schlüssel liege oben drauf.

Das Gewehr hat einen Kipplauf, der vordere Teil wird nach jedem Schuss zum Nachladen geknickt, um die Patrone einzuführen. Die Patronen, im Fachjargon Diabolos, gibt es mit rundem oder spitzem Kopf. Die Rundkopf-Diabolos seien so harmlos, dass man sie mit einem Lederhandschuh fangen könnte, „da spüren Sie vielleicht einen kleinen Druck“, erklärt Krechel.

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Er geht die Verteidigung offensiv an, lässt in der Verhandlung nur Fragen der Kammer zu, nicht aber des Staatsanwalts und des vom Amtsgericht Königswinter als zuständigem Familiengericht entsandten Nebenklägers.

Das Jugendamt hatte nach Bekanntwerden des Falls den Jungen aus dem Haushalt genommen und dem Stiefvater, der den Elfjähriges „wie ein eigenes Kind liebt“, jeden Kontakt mit ihm verboten. „Die Familie wurde auseinandergerissen“, kommentiert Krechel. Erst seit zwei Wochen ist sie wieder zusammen, im Rahmen eines „Clearing-Programms“, mit dem das Jugendamt prüfen will, wie sie die Krise bewältigt.

Das Opfer wird in dem Prozess nicht als Zeuge gehört. Möglicherweise kommt eine Ärztin zu Wort, die Auskunft darüber geben soll, ob der Elfjährige ein anderes Schmerzempfinden hat als Gleichaltrige.

So ließe sich vielleicht erklären, ob er möglicherweise die Verletzungen schon länger hatte, ohne sie zu bemerken. Der Staatsanwalt will entsprechende Zeugenaussagen aus dem Umfeld der Familie präsentieren, die der Verteidiger aber schon jetzt als „unwissenschaftlich“ qualifiziert.