Tipps zum LesenVier neue Bücher von Autorinnen aus dem Rhein-Sieg-Kreis
Rhein-Sieg-Kreis – Zum Bücherherbst haben Autorinnen aus dem Rhein-Sieg-Kreis neue Literatur vorgelegt. Vier Romane und Kinderbücher stellen wir vor.
Judith Merchant, „Schweig!“
Weihnachten ist ein Fest, das nicht nur heimelige Gefühle hervorruft. So erlebt mancher die Nähe zur eigenen Familie als eng und erzwungen, und danach geht „es einem schlecht“. Esther jedenfalls weiß, warum sie nur widerwillig ins Auto steigt, um ihrer Schwester einen weihnachtlichen Besuch abzustatten.
Während der Schnee fällt und die Landschaft immer einsamer wird, denkt Esther an Sue, genannt „Schnecke“, eine Eigenbrötlerin und Meisterin der Manipulation. Derweil sticht die Jüngere in ihrem großen leeren Haus den Tannenbaum mit einem scharfen Messer an, bis das Harz herausquillt. Und schärft die rhetorische Klinge gegen die ältere Schwester, der sie Kontrollsucht und Übergriffigkeit vorwirft.
Welcher Ich-Erzählerin soll man nun trauen? Wer Judith Merchants Roman „Atme!“ gelesen hat, ahnt: am besten keiner. Denn die Autorin weiß ihre Leser virtuos aufs Glatteis zu führen. Und so ist es auch im aktuellen Thriller „Schweig!“, in dem die gebürtige Sankt Augustinerin ein beklemmendes, psychologisch ausgefeiltes Vexierspiel konstruiert, das nach Verfilmung geradezu ruft.
In dramatisch gegeneinander gesetzten Perspektivwechseln, packenden Dialogen und Rückblenden lässt sie die Lebenswelten der ungleichen Schwestern aufeinanderprallen. Doch je stärker sich der Erzählfaden verdichtet, desto klarer ist: Hier sind zwei in einer giftigen Symbiose verbunden, befördert durch ein Kindheitstrauma. Und dann ist da noch Esthers Mann, der Frust und Versagensängste mit Alkohol herunterschluckt. Blut fließt, und doch leuchtet schließlich der Baum und es wird gefeiert – mit Klößen, Gans und Rotkohl, und dem bitteren Nachgeschmack einer Lüge.
Kiepenheuer & Witsch, Köln. 346 S. 15 Euro
Judith Merchant und Trixy Royeck, „Hanni hat Nikoläuse“
Judith Merchant ist eine ausgewiesene Thrillerautorin, die für Erwachsene schreibt. Das neue Bilderbuch-Projekt ist ihr nach eigenem Bekunden „so zugeflogen“. Ein Treffen mit der Illustratorin Trixy Royeck, mit der sie früher in Sankt Augustin zur Schule gegangen und Hockey gespielt hat, bot den Auslöser für die reizende Bilderbuchgeschichte „Hanni hat Nikoläuse“.
Hier dreht sich alles um eine lästige Plage, die vor allem Familien mit kleinen Kindern befällt. Krabbeltierchen will keiner auf dem Kopf haben, aber vielleicht niedliche Nikoläuse? So tauft Hannis Mutter kurzerhand die winzigen Insekten, die sie eines morgens im Kopfhaar ihres Sprösslings entdeckt.
Wie die drolligen Kerlchen in Hannis braunem Schopf herumturnen und sich sogar auf Leitern zu den Haarspitzen empor schwingen, zeigt Trixy Royeck in schwungvollen Bildern, die den frischen Erzählton Judith Merchants aufnehmen.
Mit Witz und Charme deuten Autorin und Illustratorin ein alltägliches Drama zur Komödie um. Statt Ekel und Abwehr lassen sie Forschergeist und Fantasie triumphieren – bis zur Party in der Badewanne, bei der Hanni „Nikoläusisch“ singend den kratzigen Besuch verabschiedet. Den man mit seinem Appetit auf Kirschlollis beinahe liebgewonnen hat.
Für Kinder ab drei Jahre. Edition Michael Fischer, Igling. 12,99 Euro
Andrea Lienesch, „Wie ich in den Sommerferien aus der Geisterbahn fiel und eine Elektrikerin entführte“
Der Titel klingt umständlich, macht aber neugierig: „Wie ich in den Sommerferien aus der Geisterbahn fiel und eine Elektrikerin entführte“ von Andrea Lienesch. Die Autorin aus Lohmar hat ein Faible für bizarre Begebenheiten und schräge Figuren, und das spielt sie auch in dieser rasanten, aberwitzigen Geschichte aus. In der lässt sie „eine Menge üble Sachen passieren. Wenn du lieber etwas über glückliche Ponys auf grünen Wiesen lesen möchtest, dann bist du hier falsch“. Doch wer will das schon?
Da reizt ein Trip zur Geisterbahn-Gang doch mehr, bei dem man Bekanntschaft schließt mit dem sprechenden Skelett Jack, der lila wabernden Nebel-Dämonin Dagmar oder dem grünen Pfandflaschen-Geist Günther.
Dass die Autorin zu Beginn jedes Kapitels ein Warndreieck aufstellt, soll Kinder (ab acht Jahre) natürlich nicht abschrecken, sondern zum Weiterlesen verlocken. Die Geschichte um Collin Schmidt, der mit seinem Vornamen wie mit seiner physischen Unauffälligkeit hadert, entwickelt denn auch schnell einen Sog. Als Collin bei der Klassenfahrt in einem maroden Freizeitpark landet, laufen die Dinge aus dem Ruder.
Doch die schrille Community will bloß Normalität, wenn sie die Elektrikerin Gisela kidnappt, die die Stromleitungen von Fun City wieder in Schuss bringen soll. Und dabei lernt man auch, welche Vorteile das Internet für Jahrhunderte alte Gespenster bieten kann.
Edition Pastorplatz, 178 S., Illustrationen von Mele Brink, 14 Euro
Michaela Küpper, „Die Edelweißpiratin“
In die Zeit des Nationalsozialismus ist Michaela Küpper bereits für ihre Romane „Kaltenbruch“ und „Der Kinderzug“ eingetaucht. Dazu recherchierte die Autorin aus Königswinter in Archiven und im NS-Dokumentationszentrum Köln. Und stieß während ihrer Arbeit auf Gertrud Kühlem und ihre Tochter Gertrud „Mucki“ Koch (1924-2016), die als einzige Frau aus dem Umfeld der Kölner Edelweißpiraten bekannt geworden ist.
Mucki Kochs Jugendzeit hat Michaela Küpper nun in dem spannenden Roman „Die Edelweißpiratin“ verdichtet. Von der Verhaftung des Vaters Peter Kühlem, der als Kommunist im Konzentrationslager ermordet wurde, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs spinnt sie ihren Erzählfaden, schildert das Geschehen abwechselnd aus der Sicht von Mutter und Tochter.
Anschaulich schildert Michaela Küpper, welche Repressalien die Familie erlebt, wie die Mutter ihre Arbeit als Apothekerin verliert und Mucki wegen politischer Unzuverlässigkeit ihre Ausbildung in einem Montessori-Kindergarten nicht beenden kann.
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Armut und Angst vor der Gestapo dominieren aber nicht den Alltag, denn Kraft und Selbstbewusstsein schöpft Mucki aus der Gemeinschaft mit anderen Jugendlichen. Doch bald beschränken sich die Abenteuer nicht mehr aufs Fahrtenleben, man entwirft Flugblätter, schreibt Parolen an Hauswände. Wie die junge Heldin sich damit auch gegen das Frauenbild des Nationalsozialismus auflehnt, wird deutlich in diesem Roman, der Fakten gekonnt mit Fiktion verwebt. Wo sie widersprüchliche Quellen entdeckte, wich Küpper von der Autobiografie Mucki Kochs ab. Ein Nachwort sorgt für Einordnung und regt zu eigenen Forschungen an.
Droemer Verlag, 345 S., 20 Euro