Die Holocaustüberlebende Tamar Dreifuss hat zum zehnten Mal vor Schülerinnen und Schülern der 5. Klasse aus der Gesamtschule Meiersheide gesprochen. Eine Installation hält ihre Erinnerungen für die Zukunft fest.
„Deutschland ist meine Aufgabe“Zeitzeugin Tamar Dreifuss spricht mit Schülern in Hennef
Diane Wiebecke, die Schulleiterin der Gesamtschule Meiersheide, fasst sich kurz bei ihrer Begrüßung der Holocaustüberlebenden, „da die Zeit mit Tamar Dreifuss so wertvoll ist“. Sie bringt es auf den Punkt – nur wenige junge Menschen haben heute noch die Chance, eine Zeitzeugin des Nationalsozialismus persönlich kennenzulernen. Die Mehrzweckhalle Meiersheide in Hennef ist gefüllt mit Schülerinnen und Schülern der fünften Klasse, die darauf warten, Tamar Dreifuss Fragen zu ihrer unglaublichen Lebensgeschichte zu stellen.
Seit zehn Jahren schon kommt die Holocaustüberlebende jedes Jahr nach Hennef. Anfangs erzählte sie einzelnen Schulklassen die Geschichte, wie sie als jüdisches Mädchen die Shoa überlebte, dann sprach sie jährlich vor der gesamten Jahrgangsstufe 5. „Die Kinder empfinden sie als eine Freundin der Schule“, sagt Wiebecke.
Hoffnung in die nächste Generation
Tamar Dreifuss wurde 1938 geboren und hat mittlerweile mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen. Dennoch gibt sie es nicht auf, immer wieder vor Menschen, vor allem vor Kindern und Jugendlichen, über ihre Erinnerungen zu sprechen: „Meine Hoffnung ist es, dass die Kinder verstehen, was der Holocaust bedeutet hat.“ In Kinder habe sie mehr Hoffnung als in Erwachsene, wenn es um dieses Verstehen gehe, sagt Dreifuss. Daher habe sie auch das Kinderbuch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“ geschrieben.
In Litauen geboren, überlebte Tamar Dreifuss als Kind das Ghetto von Vilnius. 1943 wurde sie von dort aus gemeinsam mit ihrer Mutter deportiert und von ihrem Vater getrennt, der später in einem Konzentrationslager ermordet wurde.
In einem Zwischenlager, wo die Gefangenen selektiert wurden, gelang es ihrer Mutter, mit Tamar zu fliehen: In den Duschen begann Jetta Schapiro, für sich und ihre Tochter gut erhaltene Kleider aus den abgelegten Kleidungsstücken herauszusuchen, steckte ihre Haare hoch und nahm die Judensterne ab. Dann verließ sie selbstbewusst und aufrecht gehend das Gelände. „Es war wie ein Wunder“, sagt Tamar Dreifuss.
Um Dreifuss' Lebensgeschichte auch für die nächsten Generationen festzuhalten, hat eine Arbeitsgruppe der Gesamtschule Meiersheide eine begehbare Skulptur in Form eines Hauses geschaffen. Raum für Raum können Besucherinnen und Besucher die Lebensgeschichte von Tamar Dreifuss nachvollziehen und dabei deren Erzählungen per Audioguide hören. Die Installation ist jedes Jahr für drei Tage um den 9. November in der Mehrzweckhalle Meiersheide zu sehen.
Bevor die Schülerinnen und Schüler ihr Fragen stellen können, richtet Tamar Dreifuss einen Appell an sie: „Wer hätte gedacht, dass heutzutage Antisemitismus zum Tagesthema wird? Leider ist es so. Unsere Aufgabe ist es, sich damit auseinanderzusetzen, durch Gespräche, Lesungen und so weiter. Wir können es in zwei Worten zusammenfassen: Fremden-Hass. Davon sind nicht nur Juden betroffen.“
Sie spricht davon, dass Vilnius, wo sie geboren wurde, und Israel, wo sie nach dem Krieg eine glückliche Jugend verbrachte, ihre erste und zweite Heimat seien, „und Deutschland ist meine Aufgabe“. Sie sei mit Anfang 20 wegen ihres Ehemanns nach Deutschland gezogen und habe sich ein Leben hier zuerst kaum vorstellen können. In ihrer Nachbarschaft in Köln habe beispielsweise ein bekannter früherer Nationalsozialist mit unverändertem Namen gelebt.
Sie habe ihre Mutter oft gefragt, wie sie den Mut für ihre Rettung aufgebracht habe, sagt Dreifuss: „Meine Mutter sagte dann, ‚ohne dich hätte ich das vielleicht nicht geschafft. Ich habe das Ziel gehabt, dich zu retten, und du sollst jetzt etwas für die Menschen tun‘“.
Tamar Dreifuss wünscht sich, dass sich auch andere Menschen engagieren, um immer weiter an den Holocaust zu erinnern. Es beschäftigt sie beispielsweise, dass eine Schwelle am Kölner Hauptbahnhof, die zeigt, wo zur NS-Zeit Juden und Jüdinnen abtransportiert wurden, kaum sichtbar sei und vernachlässigt werde. Sie habe bereits mit Oberbürgermeisterin Henriette Reker darüber gesprochen, doch bisher sei nichts passiert.
In Anbetracht des wachsenden Antisemitismus verliere sie zunehmend die Hoffnung in die Gesellschaft. Alles, was sie tun könne, sei „immer weitermachen, Geschichten aufschreiben und weitererzählen. Ich möchte immer optimistisch sein, aber ich glaube nicht, dass die Zukunft besonders rosig aussieht. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt Dreifuss. Ihre Arbeit sei wie ein Tropfen auf den heißen Stein, „Aber viele Tropfen können den Stein zum Schmelzen bringen.“