Kein EinzelfallKliniken nehmen die schwerbehinderte Lena nicht auf
- Seit die schwerbehinderte Lena Bergheim volljährig ist, bekommt sie nicht mehr die gleiche medizinische Versorgung wie als Kind.
- In Notfällen, wie einer Blinddarmentzündung wissen sie und ihre Eltern nicht, welche Klinik die 24-Jährige aufnimmt.
- Lenas Fall zeigt, wie es vielen Familien mit schwerbehinderten Kindern im Rhein-Sieg-Kreis geht.
Neunkirchen-Seelscheid – Akute Blinddarmentzündung. Das war der Verdacht, mit dem Lena Bergheim im Rettungswagen zum Krankenhaus musste. Ihre Mutter Joke und ihr Vater Frank an ihrer Seite. Wie immer.
Denn Lena ist schwerbehindert, leidet unter einer Fehlbildung des Lebervenen-Systems und damit unter einer Medikamentenunverträglichkeit. Sie hat eine lange Leidensgeschichte epileptischer Anfälle; sie kann nicht sprechen, ist nahezu blind, kann nicht alleine stehen oder sitzen.
Lena darf nicht mehr in Kinderklinik
Der Fahrer des Rettungswagens brachte sie aus ihrem Heimatort Neunkirchen-Seelscheid ins etwa 25 Kilometer entfernte Kinderkrankenhaus nach Sankt Augustin. Dort wurde Lena seit vielen Jahren immer wieder behandelt, dort ist ihre Krankenakte. Aber: Lena wurde nicht aufgenommen.
Mit ihren 24 Jahren ist sie kein Kind mehr und muss zur Behandlung in ein reguläres Krankenhaus. Früher gelang es Lenas Mutter, die Ärzte in Sankt Augustin zu überreden, ihre Tochter doch noch aufzunehmen, die dem medizinischen Personal so gut bekannt ist. Doch die Klinik leidet unter Personalmangel, der Träger Asklepios droht mit Schließung. Nur wenige Ausnahmen werden noch gemacht. Lena ist keine von ihnen.
Solange Lena noch minderjährig war, habe die Familie ein Netz an Ansprechpartnern gehabt, schildert ihre Mutter Joke Bergheim. Mit dem 18. Geburtstag des Mädchens zerriss dieses Netz. Was blieb, ist die Sorge. „Nicht zu wissen, nimmt die Klinik uns auf – das zehrt an den Nerven“, sagt die 53-Jährige.
Nur vom Alter her erwachsen
Die Bergheims sind nicht die einzige Familie, die von dieser Regelung betroffen ist. Von den 26 Familien, die der ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst des Rhein-Sieg-Kreises zurzeit betreut, sind bereits fünf aus dem Patientenraster der Kinderklinik gefallen, weil ihre Kinder volljährig wurden. In den kommenden Jahren werden es noch mehr sein.
Von einem Tag auf den anderen haben „die Familien keinen Ansprechpartner mehr“, sagt Stephanie Reuter, Koordinatorin beim ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst. „In den vielen Jahren zuvor gab es Ärzte, zu denen sie Vertrauen hatten. Nun brauchen sie neue Ärzte, die sich oft nicht mit den speziellen Bedürfnissen ihrer Kinder auskennen.“
Viele Versicherungen lehnen ab
Die Versorgung in der Asklepios Klinik Sankt Augustin sei grundsätzlich nur für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen vorgesehen, erläutert Pressesprecher Rune Hoffmann.
„Wir können daher regelhaft keine Patienten über dem 18. Lebensjahr behandeln.“ Gerade bei Patienten, die seit langer Zeit betreut werden, sei dies auch aus Sicht der Ärzte äußerst bedauerlich, da eine Fortbehandlung grundsätzlich möglich und oft im Interesse des Patienten mehr als wünschenswert sei.
„Die Mediziner kennen die Patienten zum Teil über Jahre persönlich und sind mit ihrer Geschichte tief vertraut.“ Die Kinderklinik beantrage in solchen Fällen regelmäßig die Kostenzusage bei den jeweiligen Krankenkassen, aber: „Viele Versicherungen lehnen dies mit Verweis auf unseren Versorgungsauftrag pauschal ab.“ (seb)
Häufig seien nicht einmal die Voraussetzungen für eine Behandlung der besonderen Patienten gegeben, die zwar vom Alter her erwachsen seien, aber körperlich eher Kindern entsprächen. Die medizinischen Geräte, selbst Nadeln und Kanülen sind viel zu groß für zarte Körper wie den von Lena. Sie wiegt nur 40 Kilogramm. Ein Tubus für Erwachsene passt nicht in ihre Luftröhre.
Medikamente wirken völlig anders
„Sie ist wie ein Baby“, sagt ihre Mutter liebevoll. Fünf Mahlzeiten am Tag bereiten die Eltern nach einer speziellen Diät zu, Brei, viel frisches Obst. Täglich muss eine Thrombosespritze gegeben werden, dazu homöopathische Mittel, die Lena seit vielen Jahren helfen.
Die Bergheims sind zu Spezialisten geworden, wissen Symptome ihres Kindes zu deuten, das mit einer Fehlbildung der Gefäße zur Welt kam, durch die die Leber nur unzureichend versorgt wird. Medikamente wirken völlig anders als bei anderen Patienten. Das habe damals aber niemand gewusst, als das Baby aufgrund einer Thrombose einen Hirnschlag erlitt.
Noch auf der Säuglingsstation bekam Lena damals Medikamente, die aber offenbar epileptische Anfälle auslösten. „Fünf Monate wurde sie auf Epilepsie behandelt, die Anfälle kamen im Vier-Minuten-Takt“, berichtet Joke Bergheim von den ersten Lebensmonaten ihrer Tochter. Die Medikamenten-Dosis wurde erhöht, bis das Baby in einen komaartigen Zustand fiel. „Sie war wie eine Schlackerpuppe. Die einzige lebendige Reaktion waren die epileptischen Anfälle“, erinnert sich ihre Mutter. Zu diesem Zeitpunkt galt Lena als austherapiert.
Zum Sterben nach Hause geschickt
Zum Sterben habe man den Säugling dann nach Hause geschickt, sagt Joke Bergheim, mit den Worten „Genießen Sie die Zeit, die Sie noch haben“, seien sie entlassen worden. Doch das Ehepaar wollte nicht aufgeben, kämpfte um seine Tochter. Setzte nach und nach die Medikamente ab, begleitet von einer Homöopathin. Und hatte Erfolg, die Anfälle ließen nach. „Nach sechs Wochen konnte Lena schon ein Fläschchen trinken und die Magensonde gezogen werden!“
Erst 2009 fanden die Ärzte in der Kinderklinik Sankt Augustin heraus, welche Ursache die Anfälle hatten und konnten eine Diagnose stellen. Abernethy Malformation heißt die äußerst seltene Leberfehlbildung in der Fachsprache. Damals gab es nur 42 Fälle weltweit, heute sind etwa 100 dokumentiert. Wenn sie den Ärzten sagt, an welcher Krankheit ihre Tochter leidet, müssten die meisten erst googeln, vermutet Joke Bergheim. Von den besonderen Umständen der Behandlung ganz zu schweigen.
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Spezialnahrung, Medikamente – oft habe sie mit Ärzten in Krankenhäusern geradezu kämpfen müssen. Und das Pflegepersonal habe ängstlich gefragt: „Sie lassen uns doch nicht mit ihr allein?“ Vor wenigen Tagen kam der Rettungswagen erneut: Lena hatte eine Gallenkolik. „Sie hat vor Schmerzen geschrien, war nass geschwitzt und hat um sich geschlagen“, erzählt ihre Mutter. Und wieder stellte sich die bange Frage: „In welches Krankenhaus fahren wir?“
Wunsch nach Kompetenzzentrum in Sankt Augustin
Die erste Klinik erteilte ihnen eine Absage. „Wir haben dann auf freier Strecke angehalten und beraten, wo wir hinkönnen“, berichtet Joke Bergheim. Kein Einzelfall, bestätigt Stephanie Reuter vom Kinderhospizdienst: „Das berichten andere Eltern auch, dass sie auf offener Straße mit dem Krankenwagen stehen, mit ihren Kindern, die vor Schmerzen schreien und Luftnot haben.“
In Troisdorf-Sieglar wurde Lena schließlich angenommen, wirklich gut habe man sich gekümmert, erzählt Joke Bergheim. Dennoch habe ein Arzt zugegeben, Lenas Versorgung bedeute einen „Ausnahmezustand“ für das medizinische Personal. Schließlich sei das Krankenhaus nur ein Grundversorger, Lena aber brauche Maximalversorgung.
„Es wäre gut, wenn es eine spezielle Versorgung für Über-18-Jährige gäbe“, sagt auch Stephanie Reuter. Das könne die Überlebenschancen der Patienten steigern. Genau das wünscht sich Lenas Mutter, dass anstelle der schließenden Kardiologie an der Kinderklinik Sankt Augustin ein Kompetenzzentrum eingerichtet würde, „für Menschen wie unsere Mausi“.