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MissbrauchLohmarer Opfer erinnert sich – „Weihnachten war immer die Hölle“

Lesezeit 4 Minuten
Ein Mann mit Hund an einem Feld

„Weihnachten war immer die Hölle“: Der Lohmarer Frank Müller mit seinem Assistenzhund Tikami.

Ruhe und Frieden wollen bei Frank Müller auch zum Fest nicht einkehren. Der Lohmarer wurde von seiner Mutter missbraucht.

Hinweis: In diesem Artikel werden sexueller Missbrauch und Gewalt thematisiert. Wenn Sie sensibel auf diese Dinge reagieren, lassen Sie Vorsicht walten, wenn Sie sich mit diesem Text auseinandersetzen.

Eine Jacke braucht Frank Müller auch im Winter nicht. Und eine lange Hose trägt er nur Frau und Tochter zuliebe, sagt er, um kein Aufsehen zu erregen. Der 54-Jährige spürt die Kälte ebensowenig wie Hitze. Das ist eine sichtbare Folge der sexuellen Gewalt. Müller wurde von seiner eigenen Mutter missbraucht, als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener. Familiäre Geborgenheit habe er auch zum Fest des Friedens nicht erlebt: „Weihnachten war bei uns immer die Hölle.“

Dass er nun über sein Martyrium öffentlich spricht, dass er seinen Namen nennt und sich für die Lokalzeitung fotografieren lässt, diesen Schritt hat sich der gelernte Elektroanlagenbauer reiflich überlegt. „Wir Opfer müssen uns nicht schämen.“ Nur wenn das Schlimmste benannt werde, könnten Betroffene Mut fassen, sich zu offenbaren. Ihm habe niemand geholfen.

Die psychische Erkrankung des Lohmarers ist nicht heilbar

Auch mehr als 30 Jahre später, die Eltern sind längst tot, hat er an seinem Kreuz schwer zu tragen. Geht in Stresssituationen auf Angriff, bekommt Panikattacken bis hin zu Ohnmachtsanfällen. In solchen Situationen helfe ihm Tikami, sein Assistenzhund der Rasse Elo, der seine Unruhe eher spüre als er selbst, erklärt Müller: „Er ist mein Lebensretter.“

Die Schilderung der lange zurückliegenden Ereignisse lässt sich durch die Redaktion nicht überprüfen, dokmentiert sind aber die Folgen. Seine psychische Erkrankung fällt unter das Kürzel KPTBS, die komplexe posttraumatische Belastungsstörung ist chronisch, unheilbar. Er ist als Opfer anerkannt, hat einen Schwerbehindertenausweis, Pflegestufe 3, bezieht, nachdem er seinen Job beim Flughafen verlor, seit 2015 eine EU-Rente.

Mutter präsentierte gegenüber dem Lohmarer Schulamt Ausreden

Fast 20 Jahre lang habe er die Vorfälle verdrängt. Seit rund 13 Jahren sei er in Therapie, angestoßen von seiner Frau: „Ich war unerträglich.“ Einige Jahre leitete er den KTPBS-Bundesverband, setzte sich für die Belange Betroffener ein.

Vor Jahrzenten sei es undenkbar gewesen, dass auch Frauen Täterinnen sind, dass auch Mütter ihre Kinder missbrauchen. Beratungsstellen gab es damals vielleicht in den Großstädten, meint er, aber nicht auf dem Land. Eine Grundschullehrerin, die beim Sportunterricht seine blauen Flecken bemerkte, habe zwar das Schulamt der damaligen Gemeinde Lohmar informiert. Doch seine Mutter habe Ausreden präsentiert, keiner hakte mehr nach, das Geheimnis blieb in der Familie, und er ihr ausgeliefert.

Geschirr mit Aufdruck„ Assistenzhund“

Der Assistenzhund darf Frank Müller überall hin begleiten, dennoch gebe es manchmal Probleme.

Sie sei eine kleine, energische Person gewesen. Verheiratet mit einem Alkoholiker. Beim ersten Übergriff war der Sohn 5, mit 22 erst schaffte er es, sich aus der Ohnmacht zu lösen. Als Heranwachsender habe er durchaus versucht, sich zu wehren gegen die Mutter, habe ihr gedroht, sie anzuzeigen, erzählt er. Sie habe nur erwidert: „Schau dich an, du bist größer als ich und stärker. Niemand wird dir glauben.“

Hausverbot in Supermärkten in Lohmar und Siegburg

Hilfe habe er auch von seinem Vater nicht erwarten können, sagt Müller. Der habe ihn klein gemacht, geschlagen, wie einen Arbeitssklaven gehalten, seine gebliebten Kaninchen habe er als Zehnjähriger selbst schlachten müssen. „Was man liebt, muss man auch töten können, sagte er nur.“ Vom Missbrauch habe der Vater angeblich nichts geahnt; bei einem Streit damit konfrontiert, Jahre nach dem Tod der Mutter, reagierte der Vater ungläubig.

Frank Müller streichelt Tikami. Sein ständiger Begleiter, der ein Geschirr mit dem gut sichtbaren Aufdruck „Assistenzhund“ trägt, stößt nicht überall auf Wohlwollen. Im Lebensmittelmarkt pfiffen ihn die Angestellten zurück: Der Hund müsse draußen bleiben. Er habe diese Diskussion schon zu oft geführt, sagt der Lohmarer. Er reagierte unwirsch. Der Inhaber erteilte ihm Hausverbot für alle seine drei Läden.

„Ich werde aufgrund meiner Behinderung diskriminiert“, meint Müller. Supermarkt-Inhaber Günter Klein-Heßling, von der Redaktion um eine Stellungnahme gebeten, nennt das Verhalten des Kunden hingegen „nicht korrekt und provozierend“; er habe seine Mitarbeiterinnen schützen müssen. „Deshalb habe ich von meinem Hausrecht Gebrauch gemacht.“ Von der psychischen Erkrankung habe er nicht gewusst, lenkt er ein. Vielleicht ließe sich in einem Gespräch die Situation klären: „Wir können uns gerne unterhalten.“

Weihnachten feiert Frank Müller in seinem Elternhaus, er lebt mit Frau und Tochter an dem Ort, an dem ihm so viel Leid geschah. Wie kann das sein? „Das versteht meine Frau auch nicht“, sagt der 54-Jährige. „Ich baue es Stück für Stück um, mache es mir zu eigen, wie mein Leben.“ Die erwachsene Tochter darf den Baum aussuchen. Und der müsse, anders als in seiner Kindheit, nicht perfekt sein: „Zwei Spitzen sind doch schön. “