Nach dem sexuellen Übergriff auf ein 13-jähriges Mädchen im Kölner Agrippabad fragen sich viele: Wie konnte das nur passieren? Eine Expertin hat Antworten.
Nach Vorfall im AgrippabadWie erkenne ich, ob ein Kind sexuell missbraucht wird?
Im Kölner Agrippabad sollen acht Männer am Sonntagabend ein 13-jähriges Mädchen im Außenbecken des Bades sexuell missbraucht haben. Das Mädchen konnte sich befreien und den Bademeister informieren. Die Tat macht wütend und fassungslos.
Was besonders ohnmächtig macht: Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die sexuell missbraucht werden. Nicht alle können darüber sprechen. Was können Eltern, Freunde oder Verwandte dann tun? Gibt es eine Möglichkeit, um zu erkennen, wenn ein Kind sexuell missbraucht wird? Tanja von Bodelschwingh gibt Antworten. Sie steht dem Verein N.I.N.A. e.V. vor, der bundesweit Hilfe und Beratung für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte anbietet, und ist Beraterin am Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch.
Täter sind nicht immer Fremde
Wie konnte das nur passieren? Das ist immer eine der ersten Fragen, die auftaucht, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. „Viele Menschen denken, dass die größte Gefahr von Fremden ausgeht. Viele gehen zudem davon aus, dass sie einen Täter oder eine Täterin schnell erkennen würden. Doch genau das Gegenteil ist erfahrungsgemäß der Fall“, weiß Tanja von Bodelschwingh. Es sei für die meisten Menschen kaum vorstellbar, dass Kinder aus ihrem persönlichen Umfeld betroffen sind. „Dass dann auch die Täter und Täterinnen aus diesem Umfeld stammen, will man schlichtweg nicht. Und was man nicht will, sieht man nicht“, ist für sie eine mögliche Antwort auf die Frage: Wie konnte das passieren?
Wie soll man reagieren, wenn man einen Verdacht hat?
Gibt es dennoch eine Möglichkeit, rechtzeitig zu erkennen, dass ein Kind sexuell missbraucht wird? Wie geht man als Erwachsener am besten vor, wenn man einen Verdacht hat? Wie spricht man am besten mit dem Kind und was muss man noch tun? „Bieten Sie sich als Gesprächspartner an, aber bohren Sie nicht“, sagt Tanja von Bodelschwingh. Im Interview gibt sie weitere wichtige Tipps.
Frau von Bodelschwingh, wie verhält man sich am besten in folgender Situation: In der Schlange der Wasserrutsche im Schwimmbad steht ein Mann mit einem kleinen Mädchen hinter einem. Die beiden kennen sich und wirken vertraut, aber trotzdem löst die Situation ein seltsames Gefühl aus. Der Mann steht viel zu nah an dem Mädchen. Auch wenn es der Vater sein sollte, passt die Art und Weise des körperlichen Kontaktes irgendwie nicht dazu.
Tanja von Bodelschwingh: Zunächst einmal ist es gut, dieses seltsame Gefühl zu erkennen und sich selbst damit auch ernst zu nehmen. Häufig ist es ein komisches Gefühl – eine Art Störgefühl – und mehr erstmal nicht, wenn der Gedanke an sexuellen Missbrauch aufkommt. Wichtig ist, darüber nicht hinwegzugehen aus Mangel an „Beweisen“. Dennoch: Die beschriebene Situation ist schwierig, da man weder das Mädchen noch den Mann kennt und schlecht anknüpfen kann. Die Unsicherheit, ob man die Situation falsch einschätzt, hält ganz viele Menschen davon ab, etwas zu tun. Das ist sehr nachvollziehbar. Trotzdem würden wir dazu ermutigen, etwas zu sagen und damit dem eigenen Gefühl Ausdruck zu verleihen. Man könnte zum Beispiel das Kind ansprechen und fragen: „Wie geht es dir gerade?“ Oder man sagt direkt: „Auch wenn das jetzt vielleicht merkwürdig ist, dass ich das sage – aber es kommt mir seltsam vor, wie nah sie an dem Mädchen dran stehen.“ Sie riskieren damit, dass der Mann wütend wird. Aber dem Kind helfen Sie vielleicht, weil Sie reagieren und die Situation zumindest kurz unterbrechen.
Wenn man sich das nicht traut: Würde es auch helfen, in die Situation an sich einzusteigen und das Mädchen nach einer ganz anderen Sache zu fragen?
Alles kann helfen, was zeigt, dass man das Kind sieht. Gerade wenn Kinder von Vertrauenspersonen missbraucht werden, wird ihnen oft eingeredet, dass das ganz normal sei.
Hier finden Sie Hilfe
N.I.N.A. e.V., Hilfetelefon und Online-Beratung bei sexuellem Missbrauch für Betroffene, Fachkräfte, Freunde und Angehörige.www.nina-info.de
Die Telefonberatung ist anonym und kostenlos:0800/22 55 530 (Montag, Mittwoch und Freitag:9 bis 14 Uhr, Dienstag und Donnerstag: 15 bis 20 Uhr)Online-Beratung: www.hilfe-telefon-missbrauch.online
Zartbitter e.V., Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und JungenSachsenring 2-450677 Köln0221/31 20 55www.zartbitter.de
Kinderschutzbund Köln betreibt die Familienberatungsstelle und hilft auch telefonisch weiter.
Bonner Str. 15150968 Köln0221/57 77 70kinderschutzbund-koeln.de
Das Hilfeportal Missbrauch hilft bei der Suche nach einer Fachberatungsstelle in der Nähe:www.hilfeportal-missbrauch.de
Weitere hilfreiche Adressen:www.kein-raum-fuer-missbrauch.dewww.schule-gegen-sexuelle-gewalt.dewww.beauftragter-missbrauch.de
Kinder misstrauen dann irgendwann ihrem eigenen Gefühl. Ein Störer von außen ist dann sehr hilfreich, weil so klar wird, dass es nicht normal ist. Ansonsten kommt immer wieder die Bestätigung: „Der macht das sogar in der Öffentlichkeit und niemand sagt etwas. Wenn das alle Erwachsenen in Ordnung finden, dann scheint das tatsächlich in Ordnung zu sein.“
Gibt es Auffälligkeiten, die darauf hindeuten, dass ein Kind missbraucht wird?
Leider gibt es keine typischen Symptome oder Verhaltensweisen. Manche Kinder werden aggressiv, manche ziehen sich zurück oder werden unkonzentriert, sind müde und unaufmerksam in der Schule. Andere sind hingegen sehr leistungsstark und „funktionieren“ scheinbar perfekt.
Aufmerksam sollte man werden, wenn Kinder sich stark verändern, in welche Richtung auch immer. Natürlich können andere Gründe dahinterstecken, aber Missbrauch sollte man nicht komplett ausschließen. Aufhorchen sollte man auch, wenn Kinder sich sexualisiert verhalten, sexuell grenzüberschreitend sind oder ein unangemessenes Nähe-Distanz-Verhältnis zeigen, auch zu Erwachsenen. Wenn ein Kind irgendwo auf keinen Fall mehr hingehen will, sollten Sie genau nach den Gründen fragen.
Gibt es auch Kinder, die von sich aus über Vorfälle reden?
Ja, das kommt auf jeden Fall vor. Wichtig ist, dass ihre Äußerungen dann ernst genommen werden und Erwachsene ihnen glauben. Manchmal machen Kinder auch Mini-Andeutungen, die schwer als solche zu erkennen und einzuordnen sind. Sie wagen damit einen vorsichtigen Vorstoß oder wollen schauen, wie die Erwachsenen reagieren. Häufig erkennen Erwachsene das leider nicht. Oft fehlen gerade jüngeren Kindern auch die richtigen Worte und die Botschaft kommt nicht an.
Wie spricht man richtig mit Kindern über sexuellen Missbrauch, wenn man einen Verdacht hat?
Stellen Sie keine geschlossenen Fragen wie „Fasst dich der Nachhilfelehrer/Opa/Trainer komisch an?“ Vor allem kleinere Kinder antworten darauf mal mit Ja und mal mit Nein. Bringen Sie Kinder stattdessen zum Erzählen: „Ach, du möchtest nicht mehr so gerne zu Opa? Erzähl doch mal, wie es dort beim letzten Mal war. Was macht ihr denn immer so?“ Sprechen Sie auch über Geheimnisse, denn das ist oft ein wichtiges Thema bei Tätern und Täterinnen. Sie sagen zum Beispiel: „Das ist jetzt unser Geheimnis. Das darfst du keinem sagen. Sonst finden dich alle komisch und Mama wird traurig“. Kinder sollten erfahren, dass es Geheimnisse gibt, die sich nicht gut anfühlen und über die man trotzdem sprechen darf. Bieten Sie sich als Gesprächspartner an, bohren Sie aber nicht nach.
Wie reagiert man als Erwachsener, wenn das Kind dann wirklich etwas erzählt?
Unbedingt Ruhe bewahren, denn betroffene Kinder haben in der Regel Angst davor, dass eine große Panik aufkommt oder dass Vertrauenspersonen ihnen nicht glauben. Loben Sie das Kind dafür, dass es sich mitgeteilt hat. Glauben Sie dem Kind. Und vermeiden Sie alles, was eine Mitschuld signalisieren könnte und das Verhalten des Täters oder der Täterin bagatellisiert. Sätze wie „Das hatte ich doch gesagt, dass du das nicht machen sollst“ müssen in so einer Situation tabu sein. Sie erschweren, den Missbrauch aufzudecken und zu beenden und belasten das betroffene Kind.
Was muss man anschließend machen?
Versprechen Sie dem Kind auf keinen Fall, dass Sie niemandem etwas sagen. Das ist in der Regel nicht einzuhalten. Sie können sagen, dass sie vertrauensvoll mit der Information umgehen – aber selbst Unterstützung brauchen. Informieren Sie das Kind über das weitere Vorgehen. Das ist umso wichtiger, je älter das Kind ist. Gerade bei Jugendlichen ist es von großer Bedeutung, gemeinsam mit ihnen zu überlegen, was passieren soll.
Sollte man die mutmaßliche Tatperson konfrontieren?
Überlegen Sie, an welcher Stelle das der richtige Schritt ist. Solange die Kinder noch nicht geschützt sind, sollte man Tatpersonen besser nicht konfrontieren. Das erhöht den Druck auf die Kinder meistens noch. Wenn es sich zum Beispiel um eine Nachhilfelehrerin oder einen Sporttrainer handelt, sollte man auf jeden Fall zuerst den Trägerverein kontaktieren oder andere Menschen mit ins Boot holen, die verantwortlich sind. Besonders herausfordernd ist die Situation, wenn zum Beispiel die Eltern im Verdacht stehen. Das muss das Vorgehen sehr gut vorbereitet und eng im Hilfenetz abgestimmt sein, um ein Kind effektiv schützen zu können. Was genau man unternimmt, hängt sehr stark von der Situation ab. Das kann ich – ohne konkreten Fall – gar nicht so genau aufzeigen. Wesentlich ist unserer Erfahrung nach immer, sich gut zu vernetzen und im Idealfall eine spezialisierte Fachberatungsstelle hinzuzuziehen, die sowohl Helfer als auch das betroffene Kind eng begleiten kann.
Wie kann man Kinder präventiv für Gefahren sensibilisieren, ohne ihnen Angst zu machen?
Sprechen Sie – altersgerecht – mit Kindern über Gefühle, den Körper, Berührungen, Grenzen, gute und belastende Geheimnisse. Kinder müssen wissen, wo sie sich Hilfe holen können, wenn sie in Not sind. Und sie müssen erkennen, dass Hilfe holen wichtig ist, kein Petzen. Um Kinder zu schützen und zu sensibilisieren, ist vor allem eine präventive Erziehungshaltung wichtig – geprägt von Vertrauen, Achtung und Wertschätzung. Stärken Sie damit den Selbstwert des Kindes. Es zeigt sich immer wieder, dass eher emotional bedürftige Kinder sexuell missbraucht werden. Die Tatpersonen erkennen den Wunsch nach Aufmerksamkeit und nutzen das für sich aus. Nehmen Sie die Bedürfnisse Ihrer Kinder zu jedem Zeitpunkt ernst und tolerieren Sie diese, auch innerhalb der Familie! Kinder dürfen Küsse und Umarmungen ablehnen und alleine im Bad sein, respektieren Sie das. Ermutigen Sie Ihr Kind, dass es Nein sagen darf, wenn es etwas nicht möchte und dass es sich Hilfe holen kann, wenn andere das Nein nicht respektieren.
Bücher, die das Reden leichter machen
Caroline Link/Sabine Büchner: Finnis Geheimnis. Kinder stark machen, Nein zu sagen, Edel Kids Books, 32 Seiten, 14,99 Euro, ab drei Jahren
In diesem Buch geht es um ein großes Geheimnis, das Finni nicht gut tut. Der kleine Fuchs lebt mit seinen Eltern im Wald und besucht mit anderen Kindern den Tierkindergarten. Seine Eltern haben einen guten Freund, den Finni Onkel Wolfgang nennt (denn er ist ein Wolf). Wolfang möchte mit Finni ein Baumhaus bauen, was der kleine Fuchs natürlich zunächst ganz toll findet. Aber dann kommt Wolfgang Finni immer wieder zu nah und streichelt ihn so, wie ihm das gar nicht gefällt. Finni fühlt sich nicht wohl, traut sich aber nicht, seinen Eltern etwas zu sagen, weil er Wolfgang versprochen hat, dass das ihr Geheimnis bleibt. Weil Finni immer trauriger wird, spricht ihn schließlich seine Erzieherin im Kindergarten an. Und Finni traut sich endlich, zu reden.
Brigitte Jünger: Monster, Jungbrunnen Verlag, 168 Seiten, 17 Euro, ab 13 Jahren
In seiner Umgebung ist noch alles so wie vorher: der Alltag mit seiner Mutter, die Wege durch die Stadt, die Schule, die Klassenkameraden, die Theatergruppe. Doch Felix hat sich verändert, seit sein Schwimmtrainer eine Grenze überschritten hat, die niemand ohne Einwilligung überschreiten darf. Felix wurde überrumpelt und seither fühlt er sich schmutzig, wertlos und nicht liebenswert. Die Erinnerung verfolgt ihn wie ein Monster, das auftaucht, wenn er es am wenigsten erwartet.Felix muss unbedingt geheim halten, was geschehen ist, er schämt sich. Von den Menschen in seiner Umgebung zieht er sich zurück und wenn Freunde ihm nahekommen, wird er aggressiv. Nur bei seiner Schulkollegin Alva und bei seinen Großeltern fühlt er sich aufgehoben. Aber das Monster gibt keine Ruhe, bis Felix’ Geheimnis ans Licht kommt.