Sexueller Missbrauch in der Familie„Zu viele haben Angst zu intervenieren“
Frau Andresen, Sie haben in einer Studie sexuellen Missbrauch in Familien untersucht. Was sind die Ergebnisse der Untersuchung?
Ein zentrales Ergebnis: Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt in der Familie erleben, können sich nicht selbst befreien. Sie sind immer auf Hilfe von außen und von anderen Familienmitgliedern angewiesen. Das zieht sich durch die gesamte Studie. Dem gegenüber steht ein zweites Ergebnis, das nicht neu ist, aber sich bestätigt hat: Viel zu viele Menschen scheuen auch heute noch davor zurück, bei einem Verdachtsfall in einer Familie zu intervenieren. Sie haben zu große Angst, dem nachzugehen; denken, das ist privat und lassen es dann lieber. Den betroffenen Kindern und Jugendlichen wird dann nicht geholfen.
Wissen Sie das aus den Berichten der Opfer?
Ja, wir haben 817 Berichte betroffener Menschen zwischen 16 und 80 Jahren ausgewertet, die die Kommission erhielt. Sie haben alle sexuelle Gewalt in der Kindheit erlebt. Sie berichten, dass sie selbst viel versucht haben, um sich zu befreien. Sie haben sich der Mutter anvertraut – oder einer Lehrkraft oder Freundin. In vielen Fällen hat das aber nichts gebracht. Andere berichten, dass sie sich versteckt oder Widerstand geleistet haben. Aber in der Regel waren sie dem Täter oder der Täterin unterlegen. Wieder andere berichten, dass sie weggelaufen sind. Auch das hat die Gewalt oft nicht beendet. Kinder und Jugendliche versuchen also viel, haben aber nur begrenzte Möglichkeiten. Das muss man sich immer vor Augen führen.
Zur Person
Professorin Sabine Andresen ist Erziehungswissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Die Kommission wurde von der Bundesregierung einberufen und untersucht seit 2016 Ausmaß, Art und Folgen der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch 0800/22 55 530
In ihrer Studie zeigt sich, dass auch das Jugendamt in vielen Fällen nicht geholfen hat.
Die Schilderungen der Betroffenen haben die Frage aufgeworfen, ob bei den Fachkräften im Jugendamt wirklich das Wohl des Kindes im Vordergrund stand oder der Gedanke vorrangig war, dass ein Kind am besten in der Familie aufgehoben sei. Das trifft auf viele Familien zwar zu – aber wenn Kinder sexuelle Gewalt in der Familie erlebt haben, ist die Situation eine ganz andere. Was uns erschüttert hat: Bei fast der Hälfte der Betroffenen begann der sexuelle Missbrauch im Alter von unter sechs Jahren und ging dann in vielen Fällen über einen langen Zeitraum. Kinder sind auf Hilfe von außen dringend angewiesen.
Dass die meisten Missbrauchsfälle im sozialen Nahfeld passieren, ist längst bekannt. Warum haben wir uns in öffentlichen Diskussionen lange eher auf Institutionen wie Kirchen und Sportvereine konzentriert?
Angesichts der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert genießt die Privatsphäre der Familie einen besonderen Schutz. Ich halte die Privatsphäre auch für sehr wichtig, aber wir müssen sie in das richtige Verhältnis zum Kinderschutz setzen. Wenn ein Kind sexuell missbraucht wird, ist das definitiv keine Privatangelegenheit. Das Kind ist mehr als ein Teil der Familie; es hat eigenständige Rechte. Wenn wir auf Fälle wie Lügde, Staufen oder Bergisch Gladbach blicken, sehen wir, dass die Gewalttaten ihren Ursprung in der Familie haben. Trotz des Erschreckens, das jedes Mal einsetzt, führen wir in der Öffentlichkeit keine nachhaltige Diskussion, was wir aus diesen Fällen lernen.
Woran liegt das?
Es gibt eine Barriere in unseren Köpfen und Herzen, sich vorzustellen, dass Familienmitglieder ihre Kinder missbrauchen. Das verdrängen wir lieber oder verbergen uns hinter Floskeln wie „Das kann doch gar nicht sein“ oder „Ein normaler Vater tut so etwas doch nicht“. Dem Schrecklichen im Alltag mag man sich nicht richtig stellen. Deshalb verstehen wir auch viele Mechanismen und Phänomene noch nicht. Zum Beispiel, wie Mütter zu Täterinnen werden oder warum sie die Taten des Partners dulden oder unterstützen.
Wie sieht in ihren Augen gute Prävention aus?
Präventionsprojekte in Schulen sind ganz wichtig, sie sollen aber nicht nur auf Kinder zielen. Nicht Kinder müssen ihr Verhalten ändern, sondern die Erwachsenen. Präventionsansätze sollten alle Gruppen – Eltern, Lehrer, Schulleitungen, Trainer – einschließen. Es ist schon viel passiert: Wir haben in Deutschland im Jahr 2010 wieder angefangen, uns öffentlich mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu beschäftigen. Erst einmal rückten Institutionen wie Kirchen und Internate in den Mittelpunkt. Mittlerweile gibt es mehr Beratungsangebote, telefonische Anlaufstellen, einen Beauftragten der Bundesregierung, einen Betroffenenrat und Aufklärungskampagnen.
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Was kann jeder und jede tun?
Wir müssen achtsam sein und Signale erkennen. Die schlechteste Variante ist, bei einem mulmigen Bauchgefühl nichts zu tun. Wir wollen jeden und jede ermutigen, sich bei einem Verdacht zum Beispiel in der Nachbarschaft erst einmal selbst Hilfe in einer Beratungsstelle zu holen. Experten können die Lage besser einschätzen und die nächsten Schritte aufzeigen. In Köln kann man sich zum Beispiel – auch anonym – an Zartbitter oder den Kinderschutzbund wenden.