Arzt ging ins RisikoWarum eine Zahnarztpraxis in Sankt Augustin 90 Angestellte hat

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Zwei Gebäude in Sankt Augustin-Niederpleis

Vor 25 Jahren eröffnete Martin Sperling seine erste Zahnarztpraxis in Sankt Augustin auf 140 Quadratmetern. Das MVZ hat heute 90 Angestellte.

Den Trend zu medizinischen Versorgungszentren hat Zahnarzt Martin Sperling früh erkannt und in Sankt Augustin mehrere Millionen investiert.

Am Anfang stand ein Protest: 38 Zahnärzte aus der Umgebung überreichten dem Sankt Augustiner Bürgermeister eine Unterschriftenliste gegen das Projekt des jungen Kollegen. Martin Sperling investierte unbeirrt mehrere Millionen Euro in einen repräsentativen Neubau. Vor 25 Jahren startete er in die Selbständigkeit, heute hat das Medizinische Versorgungszentrum Adentes, eines der ersten im Bezirk Nordrhein, 90 Angestellte.

Jüngst feierte das Team Jubiläum, mit dabei der Chef der städtischen Wirtschaftsförderung, Edgar Bastian, der dem jungen Mediziner damals das Grundstück vermittelte. Bastian zeigte sich beeindruckt von dem zweiten, brandneuen Millionenprojekt an der Alten Heerstraße. Das stemmt der 54-jährigen Sperling aber nicht allein, sondern mit seinem Kompagnon Mathis Heuvens (34), seit 2015 als Zahnarzt im Team, seit 2017 zusätzlich Geschäftsführer des MVZ.

Zwei Männer stehen in einem Raum

Die Adentes-Chefs Martin Sperling (links) und Mathis Heuvens vor dem Wartezimmer im Surfer-Stil.

Investoren seien nicht mit im Boot. Die Ausbreitung von derartigen Praxisketten, so genannten iMVZ mit bis zu 90 Standorten, wird in der Branche wegen deren Marktmacht, Konzentration und Finanzinteressen kritisch gesehen. Im Bezirk Nordhein entstand 2006 das erste zahnmedizinische MVZ, ab 2016 verzeichnete die kassenzahnärztliche Vereinigung einen regelrechten Boom, Ende 2023 waren es 237 MVZ - 90 davon, fast 40 Prozent, sind iMVZ, also in der Hand von Kapitalmarkt-Playern.           

Assistenzärztin wurden die Pläne für das MVZ in Sankt Augustin zu groß

140 Quadratmeter hatte Sperlings erste Praxis in der Schulstraße, „das kam mir anfangs groß vor“, sagt er schmunzelnd. Der Königswinterer, der in Bonn studierte, arbeitete schon damals gern im Team. Doch seiner  Assistenzärztin seien seine Pläne für ein MVZ eine Nummer zu groß gewesen, sie sprang ab. Hatte er keine kalten Füße?  „Dafür hatte ich keine Zeit.“

Ich habe nicht geerbt
Zahnarzt Martin Sperling machte sich vor 25 Jahren selbstständig, eröffnete vor 16 Jahren das MVZ und kürzlich ein weiteres Neubauprojekt

An den damals kursierenden Gerüchten sei übrigens nichts dran gewesen, stellt er klar: „Ich habe nicht geerbt.“ Er ging ins Risiko. 2007 war Baubeginn an der Einmündung Hauptstraße/Alte Heerstraße, 2008 zog die Praxis um, neun Zahnärzte verschiedener Fachgebiete stiegen zum Start ein, aktuell sind es zehn. 

Ins kalte Wasser zu springen, ist für Sperling und Heuvens, beide passionierte  Surfer und Kite-Surfer, trotz der Krisenzeiten offenbar kein Problem. Nur kurz nach der Corona-Delle begannen die Mediziner die Planung für Adentes Kids; der weiße Kubus mit viel Glas mit Saal für Weiterbildungen und einer Lounge im Obergeschoss wurde nach zwei Jahren Bauzeit kürzlich eröffnet. 

Digitalisierung macht Löffelabdrücke verzichtbar

Wie das erste Bauprojekt optisch ungewöhnlich und technisch hochmodern: An den Wänden hängen Surfer-Fotos, die Möblierung mit viel Holz stammt aus Holland, eigenhändig vor Ort gekauft und nach Niederpleis transportiert, in den Decken sind Monitore eingelassen, erläutert Sperling, dreifacher Vater: Unruhige junge Patienten werden mit Zeichentrickfilmen abgelenkt.    

Scanner, die im Mund Fotos anfertigen, machen Abdrücke mit Löffelschalen verzichtbar, an den Computerbildschirmen lassen sich die kieferorthopädisch ideale Zahnstellung und die Zwischenschritte bis dahin simulieren. Implantologie und Oralchirurgie bietet der Betrieb, das eigene Labor fertige nicht nur individuell und aufwendig „gemalten“ und in Schichten gebrannten Zahnersatz, sondern auch transparente Schienen, die in vielen Fällen die Brackets ersetzen können.

250 Patienten waren es vor 25 Jahren im ersten Quartal, heute zählt das MVZ Niederpleis 320 am Tag

Der digitale Workflow umfasst auch das Praxismanagement-System, ein Bildschirm zeigt unter anderem die Zahl der Menschen im Wartezimmer und die der Anrufer in der Warteschleife. Eine nicht zu dünne Personaldecke sorge für einen recht reibungslosen Ablauf, trotz des stetigen Wachstums, so Sperling. Viele Patienten kämen ja mit bangen Gefühlen, da wolle man gegensteuern.

Anfangs zählte er 250 Patienten im Quartal, heute seien es 320 pro Tag, im ersten Quartal 2024 wurden 2500 neu aufgenommen.  Kassen- und Privatpatienten würden bei der Terminvergabe gleich behandelt, versichern die Chefs.

Die Sankt Augustiner Praxis arbeitet in zwei Schichten und samstags

Man verstehe sich als Dienstleister, die Öffnungszeiten von 8 bis 20 Uhr,  samstags bis 14 Uhr, sind durch ein Schichtsystem abgedeckt. Die Fachkollegen setzten sich einmal in der Woche an einen Tisch, um kompliziertere Fälle zu beraten. „Jeder Zahnarzt ist ja eigentlich der Beste“, umreißt der 54-Jährige leicht ironisch das Selbstverständnis einiger  Mediziner. Dieses Denken habe bei ihnen keinen Platz.    

Die kleine Urkunde im Besprechungsraum „Für den weltbesten Chef“ lässt Respekt und Zuneigung erahnen, man duzt sich bei Adentes, schildern Sperling und Heuvens, sie seien auch Ansprechpartner für private Belange, keine Götter in Weiß.  Familiär sei die Atmosphäre, Parties und Ausflüge - zum Beispiel zum Surfen nach Holland - kämen gut an, die Teilnahme sei selbstverständlich freiwillig.

Das Ambiente, das sich auch auf den Pausenraum erstreckt - wie ein Café mit viel Holz und Backstein-Flair, alte Blechschilder werben für Odol und Chlorodont - ist das eine. Das andere ist die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für alle: für die Abrechnungsstelle, das Praxismanagement, die Zahntechniker, die Prophylaxe-Fachkräfte, die Assistentinen, die Rezeption, den Facility Manager (neudeutsch für Hausmeister). Und die Physiotherapeuten - 2019 wurde diese Abteilung gegründet, die große Nachfrage hat das jüngste Projekt befeuert: „Wir brauchten mehr Platz.“ Zu den 1800 Quadratmetern im Hauptgebäude kamen nun 1000 Quadratmeter im Neubau.  

Die Bezahlung ist vielleicht auch ein Ausgleich für die Früh- und Spätschichten und einen Samstagseinsatz im Monat. „Für dein Lächeln“, ihr Slogan, meinen die Chefs, solle für die Beschäftigten gelten wie für die Patienten. Die kämen mittlerweile auch von weit her, aus Bonn, Köln, Düsseldorf und Frankfurt. Seine Entscheidung für Sankt Augustin vor 25 Jahren sei richtig gewesen, schwärmt Sperling: „Der Standort ist durch seine Erreichbarkeit ideal.“


Im Rhein-Sieg-Kreis gibt es mehrere, kleinere zahnmedizinische MVZ, darunter zwei in Siegburg und eines in Much.