23 Jahre langSchulpfarrerin in Siegburg vermittelte die Schrecken des Holocaust
Siegburg/Königswinter – „Die Demokratie ist keine Komfortzone. Sie braucht unseren Schutz, unseren stetigen Einsatz. Das lehrt uns auch die deutsche Geschichte“, sagt Annette Hirzel. Dieses Engagement, das die Theologin einfordert, hat sie selbst verkörpert. 23 Jahre lang vermittelte sie als Schulpfarrerin am Siegburger Anno-Gymnasium die Schrecken des Holocaust, und zwar weit über den Unterricht hinaus. Regelmäßig ist sie mit Gruppen nach Buchenwald und Auschwitz gefahren, hat Gespräche mit Zeitzeugen organisiert, die Jugendlichen zu eigenen Forschungen ermuntert. Nun ist Annette Hirzel in den Ruhestand verabschiedet worden. Doch ihren Abiturjahrgang begleitet sie wegen der Stellen-Vakanz noch bis zum Sommer.
„Die Beschäftigung mit der NS-Zeit ist ein Lebensthema geworden“, stellt die 64-Jährige fest. Wie viele ihrer Generation hat sie beobachtet: „Man gab vor, vom NS-Terror nichts gewusst zu haben. Denn wenn man etwas gewusst hätte, dann hätte man sich entscheiden müssen – und dann womöglich das eigene Leben riskiert. Es wurde also geschwiegen über diese Zeit.“ So war es auch in dem Dorf im Bergischen Land, in dem Annette Hirzel mit sechs Geschwistern aufwuchs. Dass sie als Arbeiterkind aufs Gymnasium in Waldbröl gehen konnte, war keineswegs selbstverständlich: „Das konnten sich meine Eltern nur leisten, weil es dann endlich Lernmittelfreiheit und Fahrtkostenzuschuss gab.“
Evangelische Landesynode hob das Eheverbot für Frauen auf
Ihre Freizeit hat sie in der evangelischen Gemeinde verbracht, in Jugendgruppen, Chören, auf Ferienfreizeiten. In diesem Umfeld kam der Wunsch auf, Theologie zu studieren. Doch es gab ein gewaltiges Hindernis: „Für Gemeindepfarrerinnen galt das Zölibat, was ich unmöglich fand.“
Zur Person
Annette Hirzel wurde 1956 in Erdingen geboren, einem Dorf im Oberbergischen in der Nähe von Waldbröl. Sie studierte Theologie in Bonn und Göttingen. Im Kirchenkreis war sie Mitglied des Kreissynodalvorstandes, acht Jahre war sie Abgeordnete der Landessynode. Außerdem vertrat sie als Sprecherin des kreiskirchlichen Pfarrkonvents die Funktionspfarrerinnen und Pfarrer, die in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen angestellt sind.
Die Mutter von drei Söhnen lebt mit ihrem Mann Joachim, Jurist in Pension, in Königswinter-Ittenbach. Dort hat sie 2009 das jüngste der vier virtuellen regionalen Museen aufgebaut und auch geleitet. Sie wandert gern und fotografiert mit Vorliebe Schmetterlinge. (as)
1975 aber hob die Landessynode dieses Eheverbot für Frauen auf; für die Abiturientin Anstoß, das Theologiestudium zu beginnen, das sie in Bonn und Göttingen absolvierte. Damals kam sie mit der Lehre von Rudolf Bultmann in Berührung, der das Christentum aus dem Nebel der Mythologie befreien wollte. „Ich wurde konfrontiert mit einer Theologie, die meine persönliche Frömmigkeit in Frage stellte. Das löste einen schmerzhaften, letztlich aber reinigenden Prozess bei mir aus“, erinnert sich Hirzel, selbst Mitglied der Bultmann-Gesellschaft.
Als prägend schildert sie die Frauenbewegung der 70er Jahre. Von konservativer Seite klang ihr schon im Studium der Satz ins Ohr: „Ein Rock gehört nicht auf die Kanzel.“ Eine Pfarrerin mit Kind wurde selbst Anfang der 80er Jahre noch schief angesehen. „Eine stereotype Frage lautete: Können Sie das verantworten, Ihr Kind fremdbetreuen zu lassen? Entweder war ich eine schlechte Pfarrerin oder eine schlechte Mutter – irgendwann konnte ich damit leben.“
Am Siegburger Gymnasium nahm sie die halbe Stelle als Schulpfarrerin an
Eine sechsjährige Familienpause hat sie dann doch eingelegt, zog mit Mann und den mittlerweile drei Söhnen nach Königswinter-Ittenbach. Im Jahr 1989 nahm sie die halbe Stelle als Schulpfarrerin am Siegburger Gymnasium an. „Ein Sprung ins kalte Wasser. Drei Jahre lang hatte ich das Gefühl, im Examensmodus zu sein. Und hatte Angst, dem Anspruch nicht gerecht zu werden, die Schüler zu unter- oder überfordern.“
Beides war offensichtlich nicht der Fall, denn Annette Hirzel berichtet darüber, „dass mir am Anno-Gymnasium alle Türen offen standen. Was immer ich an Erinnerungsarbeit anbot, wurde dankbar angenommen“. Diese Arbeit ergab sich zunächst über die Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“ und über Besuche mit den Schülern auf dem jüdischen Friedhof in Siegburg.
Schlüsselerlebnis: Gespräch mit dem Zeitzeugen Naftali Fürst
2006 dann ein Schlüsselerlebnis: Bei einem Zeitzeugengespräch begegnete die Pfarrerin dem Juden Naftali Fürst, ein Überlebender der Vernichtungslager Auschwitz und Buchenwald. „Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Und es dann doch getan. Ich lernte einen warmherzigen Menschen kennen, der seinen Hass radikal überwunden hat und eine unglaubliche Bereitschaft zur Versöhnung zeigte.“
Annette Hirzel gab die Erinnerungen Fürsts unter dem Titel „Wie Kohlestücke in den Flammen des Schreckens“ heraus. Zum Autor entwickelte sich eine Freundschaft, die bis heute andauert. Zahlreiche Schüler sind diesem Zeitzeugen am Anno-Gymnasium und bei ihren Besuchen in Buchenwald oder Auschwitz begegnet – eine Erfahrung fürs Leben, wie einige im Nachwort von Naftali Fürsts Buch schreiben.
Annette Hirzel betont: „Es ist eine Sache, darüber zu lesen, und eine andere, an diesen authentischen Orten zu sein und die Dimension des bürokratisierten, fabrikmäßigen Massenmordes zu begreifen.“
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Schüler zum Besuch der Gedenkstätten zu verpflichten, wie es immer wieder diskutiert wird, davon hält Annette Hirzel nichts. „Das weckt nur Gegendruck. Nur Freiwillige können zu Multiplikatoren werden, was umso wichtiger wird, als die Generation der Zeitzeugen allmählich stirbt.“
Sie wolle aufklären und sensibilisieren, aber Jugendliche nicht emotional aus der Bahn werfen, deshalb sei eine sorgsame Vor- und Nachbereitung so wichtig. Besonders freut sich die Pfarrerin darüber, „dass die Jugendliche erfinderisch sind, Songs komponieren und Gedichte zu dem Thema verfassen. Die Erinnerungskultur muss neue Wege gehen.“ Dass sie auch gegen Rechtsextremismus immunisiert, steht für Hirzel fest. „Die Schüler werden hellhörig und beginnen, bewusster mit Sprache umzugehen. Denn die Ausgrenzung von Menschen beginnt immer mit sprachlichen Entgleisungen.“