Pandemiefolge Internetsucht„Siegburger Kinder sind zum Teil nicht mehr beschulbar“
Siegburg – Freizügige Fotos, die in den sozialen Medien landen, Umgangsformen im Netz, Mobbing in Whatsapp-Gruppen, Fake News: Am internationalen „Safer Internet Day“ am heutigen 8. Februar sind das Themen, die Schulsozialarbeiter Matthias Ennenbach mit den Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule am Michaelsberg anspricht.
Aber auch darüber hinaus sind sie längst Teil seines Arbeitsalltags und gewinnen seit der Corona-Pandemie an Bedeutung. Richtiggehend „befeuert“ habe Corona ohnehin schon schwelende Probleme. Denn eine zunehmende Verrohung sei nicht nur im Netz zu beobachten, sie setze sich auch auf dem Schulhof fort – und nicht selten bei den Kindern und Jugendlichen zu Hause.
Bis zu 16 Stunden am Tag am Computer oder Smartphone
In Zeiten, wo auch Eltern im Homeoffice seien, wo man dicht aufeinander hocke und familiäre Konflikte zunähmen, würden die Kinder gern vor dem Computer oder dem Smartphone „geparkt“. Bis zu 16 Stunden am Tag verbringen manche Schülerinnen und Schüler mit Computer, Tablets und Handy, das ergab eine Umfrage in den Klassen kürzlich.
Regelrecht süchtig seien manche, weiß Ennenbach. Das fiel nach dem Lockdown auf, als Kinder plötzlich dem Unterricht fernblieben: „Die waren am Rechner gefangen.“
Viele Eltern kümmerten sich nicht, was der Nachwuchs da so treibt. „In der Bibliothek und früher in der Videothek gab es Erwachsenen-Abteilungen. Im Internet kommt man an alles dran.“ Konsum von Hardcore-Pornos sei generell inzwischen bei Kindern in den fünften Klassen vieler Schulen längst verbreitet, auch Gewaltvideos würden angeschaut. Dass daraus posttraumatische Belastungsstörungen erwachsen können, hat er schon erlebt.
Schwerpunktthema Internet
Das Team um Schulsozialarbeiter Matthias Ennenbach bietet Einzelfallhilfe, Mediation bei Streitfällen und Krisenintervention bei Mobbing oder auch häuslicher Gewalt an. Darüber hinaus vermittelt es Hilfe durch Therapeuten und das Jugendamt.
Zum Job gehöre es aber auch, die Eltern zu sensibilisieren, sagt Ennenbach. Sie müssten zum Beispiel lernen, auf die Smartphone-Nutzung zu achten, auf die Dauer und die besuchten Seiten. „Viele wissen ja selber nicht, was man mit einem Smartphone alles machen kann.“
In den Klassen werden daher Schwerpunktthemen angesprochen: Internetnutzung, Erkennen von Fake News, Cybermobbing, sicherer Umgang mit Messengerdiensten wie Whatsapp. Wie bei einem Baukasten würde so ein Gespür aufgebaut, „was geht und was nicht“. (seb)
Als Folge unreflektierten Konsums, der Einsamkeit und Frustration nehme aber auch die Gewaltbereitschaft zu, gegen andere oder als Vandalismus. Auch autoaggressives Verhalten beobachtet er häufiger als früher. „Der Leidensdruck ist hoch, das Ritzen ist ein Ausweg. Es gibt dafür Anleitungen im Netz, und manche versichern mir glaubhaft, sie hätten damit im zweiten Schuljahr schon angefangen.“
Drogengeschäfte verlagerten sich ins Netz, zum Teil würden Substanzen dort gehandelt, „die kennen wir noch gar nicht“. Dennoch flöge so etwas zumeist auf, gut vernetzt sei die Schule, achtsam das Lehrpersonal.
Dass das Kollegium an der Gesamtschule sich vor zehn Jahren entschied, auf eine Lehrerstelle zu verzichten und einen Schulsozialarbeiter einzustellen, rechnet Ennenbach der Einrichtung hoch an. „Bei uns steht Menschlichkeit im Vordergrund.“ Gebe es ein Problem, das in der Klasse besprochen werden müsse, werde der Stoff eben nachgeholt.
„Die Kinder sind zum Teil nicht mehr beschulbar“
Gerade das Miteinander sei aber im Lockdown auf der Strecke geblieben, soziale Kompetenzen müssten neu erlernt werden, hat er beobachtet. Manche Schüler konnten nicht einmal mehr das Zusammensein in größeren Gruppen aushalten.
„Soziale Kontakte verarmten, die Frustrations- und Toleranzschwelle wurde niedriger. Die Zündschnur wird kürzer“, beschreibt der Schulsozialarbeiter die Folgen. „Die Kinder sind zum Teil nicht mehr beschulbar.“
Verstärkt kämen nun auch Krankheitsbilder zum Vorschein, die behandelt werden müssten. „Es vergeht keine Woche, wo wir nicht ein halbes Dutzend Mal empfehlen, einen Kinder- und Jugendpsychiater aufzusuchen.“ Als Beratungs- und Schnittstelle fungieren dann der Schulsozialarbeiter, die Jahrespraktikantin Nina Jörg und die drei Beratungslehrerinnen.
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„Ja, die Corona-Fallzahlen sind hoch, aber ich möchte es keinem zumuten, noch einmal in den Lockdown zu gehen. Den Kindern fehlt der Kontakt zu Lehrern und Mitschülern, aber auch, dass sie hier einfach mal in den Arm genommen werden.“
Denn auch die Fälle von Misshandlung oder Missachtung im Elternhaus hätten deutlich zugenommen. Vermehrt gebe es Fälle von Kindeswohlgefährdung, wo er eiligst das Siegburger Jugendamt habe einschalten müssen, mit dem er sehr gut zusammenarbeite.
Kindesmisshandlung ist oft schwer erkennbar
Immer schwerer werde es jedoch, diese Fälle zu erkennen. Was Ennenbach in seiner Ausbildung noch als klassische Symptome von Misshandlung zu erkennen lernte, Hämatome an den Rippen oder blaue Flecken im Gesicht, „das gibt es heute kaum noch. Die Kinder werden heute an Stellen malträtiert, da darf ich gar nicht hingucken“.
Ein Gespür habe er dafür dennoch entwickelt. „Oftmals ist es eine Wesensänderung, ein Kind wird still oder gewöhnt sich eine andere Ausdrucksweise an“, sagt er. Ein Bauchgefühl sei das oft nur, für das er dankbar ist. So fragte er unlängst beiläufig ein Kind, warum es denn Schnupfen habe, und bekam die Antwort, es habe zwei Stunden auf dem Balkon in der Kälte verbringen müssen, weil es nicht artig gewesen sei.
Schulsozialarbeiter kommt an seine Grenzen
Das Angebot, mit ihm zu sprechen, nähmen viele Schülerinnen und Schüler wahr; manchmal bemerke er auch beim Rundgang durch das Gebäude oder auf dem Pausenhof Dinge, oft spreche ihn auch das Lehrpersonal an. „Schule hat ja auch eine Wächterfunktion.“
800 Schülerinnen und Schüler im Alter von neun bis 19 Jahren aus dem Einzugsgebiet von Bonn bis Waldbröl hat die Gesamtschule am Michaelsberg. Und auch wenn sich die Schule durch ein gutes Arbeitsklima, Wertschätzung und einem Umgang auf Augenhöhe auszeichne, sagt Ennenbach: „Das war vor der Pandemie schon sportlich. Jetzt komme ich an meine Grenzen.“
Neben Supervision und Gesprächen mit Kollegen helfe ihm das Singen im Eitorfer Gesangsverein und das Beten. „Und wenn es gar nicht mehr geht, dann fahre ich auf den Hof meiner Mutter und hacke Holz.“