Es ist ein kleiner Lichtblick: Obwohl auch Hafenstädte wie Odessa immer wieder von Raketen beschossen werden, verlassen Frachter mit Tausenden Tonnen Getreide die Ukraine. Das mühsam errungene Abkommen hilft dem Land, zumindest etwas Geld zu verdienen. Doch es läuft bald aus.
Ukraine-KriegWieso aus der „Kornkammer Europas“ bald kein Getreide mehr kommen könnte
Die Schiffe fahren und das ist erstaunlich genug. Mal sind es zwei, mal vier, mal auch ein knappes Dutzend, die an einem Tag über das Schwarze Meer die Ukraine verlassen. In ihren großen Transporträumen befindet sich kostbares Gut: „The Eternal“ bringt 70.400 Tonnen Mais aus Odessa nach China. Aus Tschornomorsk legt die „Saturn J“ ab, mit 30.050 Tonnen Mais für Tunesien. In Juschne startet die „Saint Myron“ mit 67.000 Tonnen Weizen, der nach Spanien geliefert werden soll.
Die Ukraine befindet sich im Krieg, immer wieder wird auch die Hafenstadt Odessa von russischen Raketen angegriffen. Aber die Schiffe fahren, seit nach wochenlangen Verhandlungen unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei im August das Schwarzmeer-Getreide-Abkommen in Kraft trat. Ein kleiner Lichtblick ist das, immerhin. Auch wenn sich die Schiffe zuweilen stauen. Zu Dutzenden stehen sie dann Schlange im Bosporus.
Rund 21 Millionen Tonnen Getreide – Weizen, Roggen, Mais und Sonnenblumenkerne oder ‑öl – seien seitdem aus der Ukraine gebracht worden, meldete die Schwarzmeer-Initiative Mitte Februar. Das entspricht etwa der Hälfte der Exportmenge aus dem Jahr 2021.
Die Ukraine verdient so in Kriegszeiten zumindest ein bisschen Geld. „Der Getreidehandel hilft unserem Land, zu überleben“, sagt die ukrainische Sonderbeauftragte für Ernährungssicherheit, Olga Trofmitseva, in einem Gespräch mit dem Internationalen Wirtschaftssenat. 20 Prozent der ukrainischen Ausfuhrerlöse entfielen vor dem Krieg laut EU auf Getreideexport.
Und die Schiffe mit den Abermilliarden millimetergroßen Körnern an Bord haben auch eine Fernwirkung: Als Russland vor einem Jahr in die Ukraine einfiel, zeigte sich schnell, wie diese ökonomisch mit der Welt zusammenhängt. Die Häfen im Schwarzen Meer waren blockiert, die Exporte kamen zum Erliegen. Die ukrainischen Getreidelager liefen voll. Und wie sollte die nächste Ernte eingebracht werden, angesichts von Kämpfen, von Minen auf Feldern, von fehlenden Arbeitskräften, weil die die Traktoren gegen Soldatenhelme tauschen mussten? Agrarminister Cem Özdemir sprach vom Versuch Russlands, die Ukraine zusätzlich wirtschaftlich unter Druck zu setzen – und von der Notlage selbst zu profitieren. Schließlich ist auch Russland ein Getreideexporteur.
In deutschen Supermärkten war schnell das Sonnenblumenöl ausverkauft. Der Weizenpreis stieg auf Rekordwerte. Hilfsorganisationen schlugen Alarm: Denn die Preise stiegen ja auch in Ländern, in denen die Bevölkerung wegen Dürren, regionaler Kriege und anderem ohnehin schon wenig zu essen hat.
Sonnenblumenöl war ausverkauft
Und das Getreide fehlte: Nicht nur in Somalia, auf den Seychellen, in Libyen, Pakistan, Dschibuti, Tunesien, dem Libanon, für die die Ukraine Weizenhauptlieferant war. Auch das World Food Programme (WFP) der UN verzeichnete Ausfälle: Es hatte zuvor etwa die Hälfte seines Getreides aus dem Gebiet bezogen, in dem nun Raketen fielen.
Die Ukraine war vor dem Krieg einer der zehn größten Getreidelieferanten der Welt, beim Sonnenblumenöl auf Platz eins der Exporteure, beim Roggen auf dem zweiten Platz, Platz drei bei Mais und Raps, Platz fünf bei Weizen. Mit 32 Millionen Hektar Ackerfläche gilt es als „Kornkammer Europas“. Die ukrainische Flagge scheint das widerzuspiegeln: ein Streifen Blau für den Himmel, ein Streifen Gelb für ein wogendes Getreidefeld.
Wo Getreide fehlt oder teurer wird, wächst der Hunger. Und Russlands Präsident Wladimir Putin spann daraus seine eigene Geschichte: Schuld an der Verschärfung der Hungerkrise sei der Westen mit seinen Sanktionen gegen Russland, ließ er verbreiten. Bei ihren Reisen stießen nicht nur Regierungsmitglieder immer wieder auf diesen Vorwurf. Russland schneide „die schwächsten Länder in Afrika, im Nahen Osten und in Asien von lebenswichtiger Nahrung ab. Und macht andere dafür verantwortlich“, beschwerte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Die ukrainische Wirtschaft, Preise und Ernährung, die russische Selbstdarstellung – viel passt in so ein Weizenkorn hinein.
Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) fuhr in die Ukraine und sagte Hilfe zu. Außenministerin Annalena Baerbock ließ sich den rumänischen Hafen Constanta zeigen, als mögliche Ersatzoption. Zugstrecken wurden überprüft und man stellte fest, dass ein Umstellen gar nicht so einfach ist, weil das mit Russland verbundene Belarus für Transitstrecken ausfiel. Weil die ukrainische Bahnspurbreite eine andere ist als die europäische und Waren daher mühsam verladen werden mussten. Weil in Züge und auf Lkw nun mal weniger Getreide passt als auf Frachtschiffe.
EU richtete „Solidaritätskorridore“ ein
Die EU beriet und richtete im Mai sogenannte „Solidaritätskorridore“ ein, mit zusätzlichen Transportkapazitäten und vor allem erleichterten Zollvorschriften. Die Preise fielen zum ersten Mal.
Und sie fielen erneut, als mit dem Schwarzmeer-Abkommen wieder Schiffe in etwas größerem Umfang zum Einsatz kamen. Hauptadressaten der Lieferungen waren China, Spanien und die Türkei – keine Hochkrisenländer also. Aber auch so wird der Markt entlastet.
„Das Schwarzmeer-Getreideabkommen ist ein wichtiger Beitrag, um die globale Ernährungskrise in den Griff zu bekommen“, sagte der Direktor des UN World Food Programmes (WFP), Martin Frick, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Allein WFP hat so rund 460.000 Tonnen Nahrungsmittel in arme Länder verschiffen können. Vor allem aber hat das Abkommen geholfen, die Märkte zu beruhigen. Der globale Nahrungsmittelindex ist mittlerweile auf das hohe Vorkriegsniveau zurückgegangen.“
Es ist nicht so, dass es deswegen keinen Hunger mehr gibt auf der Welt. „Die Ernährungskrise ist nicht vorbei“, sagt Frick. „Alle Faktoren, die diese Krise befeuern, sind nach wie vor akut, sei es der Krieg, die Klimakrise oder die dramatische Preis- und Schuldenentwicklung in armen Ländern. Hunger ist vom Lauffeuer zum Flächenbrand geworden.“
Die Lage auf den Getreidemärkten hat sich entspannt, aber Dünger und Kraftstoffe sind teuer. Auch die Inflation trägt dazu bei, dass Menschen sich kein oder nicht ausreichend Essen leisten können. Naturkatastrophen kommen hinzu, durch den Klimawandel werden sie nach Einschätzung von Expertinnen und Experten häufiger werden. 349 Millionen Hungernde zählt das WFP mittlerweile, innerhalb von drei Jahren hat sich die Zahl nahezu verdreifacht.
Und es gibt auch die, die unter den Exporten aus der Ukraine leiden: Polen, Rumänien und andere osteuropäische Länder beschwerten sich, weil das über die EU-Solidaritätskorridore eingeführte günstigere ukrainische Getreide und Geflügel die eigenen Produkte schlechter verkaufen ließ. Die EU-Agrarminister haben mittlerweile Ausgleichszahlungen in den Blick genommen.
Ukraine: Abkommen endet am 18. März
Es ist möglich, dass sich die Lage auch wieder zuspitzt. Das Abkommen über den humanitären Korridor endet am 18. März. „Es geht jetzt darum, alles Notwendige zu tun, damit das UN-Getreideabkommen verlängert wird“, sagt Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir dem RND. Er begrüße die entsprechenden Anstrengungen der UN, die über eine solche zweite Verlängerung bereits verhandelt. Özdemir will vorbauen, ganz generell und wohl auch für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern.
„Gleichzeitig ist es gut, mehrgleisig unterwegs zu sein“, sagt er. „Neben der Bemühung um die Verlängerung des Abkommens sollten wir alles daran setzen, die EU-Solidarity-Lanes und die alternativen Exportrouten für ukrainisches Getreide zu stärken, um Putin eine seiner scharfen Waffen – das perfide Spiel mit der Vergrößerung des Hungers auf der Welt – zu entreißen.“ Er setzt auf den Landweg – und auf die Donauhäfen der Ukraine. Mit 3 Millionen Euro fördere die Bundesregierung dort die schnellere Warenabfertigung und die Lagerung. Özdemir ist sich sicher, man habe einen „Schlüssel, um Getreideexporte langfristig auszubauen“.
Gefahr von treibenden Minen
Aber noch fahren die Schiffe übers Schwarze Meer: die „Ince Marmara“ mit 58.630 Tonnen für Bangladesch aus Juschne, die „Sea Majestic“ mit 19.176 Tonnen Sonnenblumenöl für Indien aus Tschornomorsk, die „Danae“ mit 32.988 Tonnen Mais für Großbritannien aus Odessa. Die Zeit für ihre Überfahrt ist genau festgelegt: zwischen 5 und 21 Uhr. Im Schwarzmeer-Abkommen heißt es: Davor und danach bestehe die Gefahr, auf treibende Minen zu treffen. Oder fälschlicherweise für ein Kriegsschiff gehalten zu werden.