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Baerbock bei Anne WillKanzlerkandidatin der Grünen muss sich unbequemer Frage stellen

Lesezeit 5 Minuten
Baerbock bei Will

Die Runde bei Anne Will

Eigentlich will Moderatorin Anne Will mit ihren Gästen über die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie sprechen. Doch im Studio sitzt die Grünen-Parteivorsitzende Annalena Baerbock. Seit wenigen Tagen ist klar, dass sie die erste Kanzlerkandidatin ihrer Partei wird. Deshalb heißt es in den ersten rund 20 Minuten Eins-gegen-Eins, Will im Gespräch mit Baerbock. Die Bundesnotbremse muss noch etwas warten.

Die Grünen-Vorsitzenden Baerbock und Robert Habeck hatten sich auf Baerbock als Kanzlerkandidatin verständigt. Will forscht nach den Gründen: Es stehe im Raum, Baerbock sei nur Kanzlerkandidatin geworden, weil sie eine Frau sei. „Kriegen Sie das noch mal abgeräumt?“, fragt Will. „Mein Geschlecht werde ich nicht ändern, auch nicht in den nächsten sechs Monaten“, entgegnet die Politikerin. „Natürlich hat die Frage von Emanzipation auch eine Rolle gespielt“, sagt sie. Es sei aber nicht der alleinige Grund gewesen.

Ihre fehlende Regierungserfahrung sieht die Grünen-Kanzlerkandidatin nicht als Problem. Das sei kein Ausschlusskriterium. Regierungserfahrung würden die von den Grünen mitregierten Länder und Robert Habeck mitbringen. Sie sei außerdem lernfähig.

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In der Klimapolitik will Baerbock die Breite der Gesellschaft erreichen. „Wenn ich wirklich an führender Stelle dieses Land verändern will, dann reichen mir nicht acht Prozent aus“, sagt sie. Man müsse sich den Kopf zerbrechen, wie Klimaschutz für jemanden im ländlichen Raum funktioniere. Auch sei wichtig, die Industrie umzubauen und zeitgleich die Arbeitsplätze zu erhalten. Zuletzt hatten Umfragen die Grünen vor der Union gesehen.

Das Thema bei Anne Will ist eigentlich Corona

Im Rest der Sendung soll es aber um Corona gehen. Seit Samstag greift die Bundesnotbremse. Sie setzt bundesweit verbindliche Beschränkungen ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 in einem Landkreis oder einer Stadt um. Dazu zählen auch nächtliche Ausgangsbeschränkungen, Regeln für Schul-Schließungen und schärfere Regeln für Geschäfte. „Bundesnotbremse in Kraft - Durchbruch oder ‚Tiefpunkt‘ in der Pandemiepolitik?“, ist das Thema der ARD-Sendung „Anne Will“ am Sonntagabend. Es ist der Abend vor dem Impfgipfel von Bund und Ländern. Bei dem soll es auch darum gehen, ob für Geimpfte die gleichen Beschränkungen gelten wie für Nicht-Geimpfte.

Die Gäste

Die Grüne Parteivorsitzende Baerbock muss rechtfertigen, sich bei der Abstimmung zur Bundesnotbremse enthalten zu haben. Die Grünen wollten das Gesetz nicht zum Scheitern bringen, hätten sich aber Änderungen gewünscht. Problematisch sieht sie die Ausgangsbeschränkungen. Die könnten zwar als Ultima Ratio ein Baustein der Maßnahmen sein. Doch sie kritisiert, dass der Arbeitsbereich nicht radikal runtergefahren werde. Baerbock bemängelt dabei die Verhältnismäßigkeit.

Zu Beschränkungen für Geimpfte sagt Baerbock: „Man muss sie aus meiner Sicht gleichstellen so wie Personen, die getestet sind.“ Sie bezieht sich dabei auf die Tätigkeiten, die Menschen mit einem negativen Test-Ergebnis ermöglicht werden. Es gehe um Grund- und Bürgerrechte. Doch Abstand- und Masken-Pflichten im öffentlichen Raum sollten für alle beibehalten werden.

Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kritisiert ebenfalls den Umgang mit Geimpften in der Bundesnotbremse. Die Bundesregierung könne dem Gesetz zufolge nach ihrem Ermessen Geimpften wieder Freiheitsrechte gewähren. „Das ist der komplett falsche Ansatz“, sagt Leutheusser-Schnarrenberger. Sie halte das für strikt verfassungswidrig. Sie bezieht sich darauf, dass Geimpfte kein Infektionsrisiko mehr seien: „Wenn ich keins mehr bin, ja dann kann man mir die Rechte nicht nehmen, ich habe die dann.“

Auch die Ausgangsbeschränkungen sieht Leutheusser-Schnarrenberger kritisch. Die Wirkung sei höchstens moderat. Draußen sei das Infektionsrisiko deutlich geringer. „Es geht um massive Beschränkungen von Freiheitsrechten“, sagt Leutheusser-Schnarrenberger. Da müsse man genauer hinschauen.

Priesemann: Schutz einer Impfung ist nicht hundertprozentig

Viola Priesemann, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, verweist auf andere Länder in Europa. Dort habe man gesehen, dass mit einem Paket aus relativ massiven Ausgangssperren, Homeoffice und geschlossenen Schulen die Zahlen zügig runtergegangen seien. Die Ausgangsperre allein sei nur ein Teil der Maßnahmen, der wahrscheinlich ein paar Prozente bringe.

„Wir können exponentielles Wachstum“, sagt Priesemann. „Es gibt aber auch exponentiellen Rückgang.“ Bei einem R-Wert von 0,9 brauche die Halbierung der Fallzahlen einen Monat. Ein R-Wert von 0,7 bringe das innerhalb einer Woche. Es sei ein eklatanter Unterschied: „Mache ich in allen Bereichen mal ein paar wenige Wochen zu oder mache ich über Monate halb zu in einem Teil der Bereiche“, sagt sie. „Wir haben uns leider für die zweite Option entschieden.“

Der Schutz einer Impfung sei nicht hundertprozentig, warnt Priesemann. Wenn Geimpfte nicht mehr getestet werden, könnten sich Escape-Varianten des Virus verbreiten.

Priesemann bei Will

Vila Priesemann bei Anne Will

Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler und Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, bringt in die Diskussion um die Beschränkungen für Geimpfte einen weiteren Aspekt ein: „Die verfassungsrechtliche Lage erscheint vollkommen klar, dass Freiheitsrechte dann zurückgegeben werden müssen, wenn der Grund des zeitweiligen Entzugs weggefallen ist.“

Doch es gebe ein politisches Problem: „Wenn nicht allen Menschen das bisher angeboten worden ist, haben wir eine Spaltung.“ Es gebe dann eine Ungleichbehandlung. Das führe zu einem Hinauszögern der Rückkehr zu den Freiheitsrechten seitens der Politik.

Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel), Gabriel Felbermayr, bringt das Testen ins Spiel. Er fragt, ob eine ordentlich gemachte Teststrategie auch Freiräume öffnen kann. Statt Geld in die Auswirkungen des Schließens zu stecken, könne man die Milliarden für Schutzräume einsetzen, wo wirtschaftliche Aktivität wieder möglich wäre. „Mir fehlt irgendwie der große Wurf“, sagt er. Man habe nun ein paar Dinge nachgeschärft und vereinheitlicht, das sei okay. Doch das reiche bei Weitem nicht, um „erstens die Zahlen runter zu bringen und zweitens Perspektive zu bieten“.

Das Fazit

Mögliche Erleichterungen für Geimpfte und Nicht-Geimpfte werden auch Bund und Ländern bei ihrem Gipfel am Montag diskutieren. In der Runde bei „Anne Will“ hat Wissenschaftlerin Priesemann davor gewarnt, bei Geimpften auf Tests zu verzichten. Doch es gab Überschneidungen der Positionen zwischen Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP und Baerbock von den Grünen: Beide setzen sich für mehr Freiheiten von Geimpften ein.