Bei der feierlichen Beerdigung für Jimmy Carter muss sich Donald Trump zahlreiche indirekte Mahnungen anhören. Die Frau seines Ex-Stellvertreters Mike Pence gibt ihm nicht die Hand.
Bei Feier für Jimmy CarterWie ein Fremdkörper: Trauerreden halten Donald Trump den Spiegel vor
Eigentlich könnte Donald Trump schon nach zehn Minuten wieder gehen, denn da hat er sein mutmaßlich wichtigstes Ziel bei diesem unangenehmen Termin erreicht. Gleich nachdem der künftige US-Präsident seinen Platz in der zweiten Reihe der National Cathedral eingenommen hat und noch ehe die offizielle Zeremonie beginnt, hat er sich demonstrativ zu seinem rechten Sitznachbarn gewandt und ihm mit breitestem Lächeln ein Gespräch aufgezwängt. Worum es geht, kann man nicht hören. Aber die Kameras klicken: Trump und Barack Obama scheinbar freundschaftlich vereint - das ist ein schönes Motiv.
Tatsächlich ist Trump an diesem eiskalten Wintertag der Außenseiter. Ein größerer Antipode als der mit 100 Jahren verstorbene Ex-Präsident Jimmy Carter, der in der Kirche ein letztes Mal geehrt und anschließend beerdigt wird, ist kaum vorstellbar. Menschlichkeit, Bescheidenheit und Gradlinigkeit werden in allen Nachrufen als wichtigste Charaktereigenschaften des Erdnussfarmers. Für Trump sind das eher seltene Attribute.
Alle lebenden fünf US-Präsidenten sind zu Ehren Carters versammelt
Mehr noch: Zu Ehren Carters sind in der Kathedrale alle lebenden fünf US-Präsidenten versammelt. Doch der Demokrat Bill Clinton, sein republikanischer Nachfolger Gorge W. Bush, dessen Nachfolger Obama und Amtsinhaber Joe Biden haben alle eindringlich vor einer Rückkehr ihres „Kollegen“ ins Weiße Haus gewarnt.
Trotz der geschickten Inszenierung ist Trump ein Fremdkörper in der Kirche. Zum ersten Mal seit dem Kapitolsturm vom Januar 2021, bei dem die Aufrührer einen Galgen für Mike Pence errichteten, begegnet er seinem ehemaligen Stellvertreter wieder. Mit eisernen Miene schüttelt der kurz Trumps Hand. Seine Frau Karen schaut demonstrativ in ihren Liedtext, den sie mit beiden Händen festhält.
Der Republikaner Bush geht wortlos an Trump vorbei und beginnt dann ein Gespräch mit Pence. Der scheidende Amtsinhaber Biden und seine Frau Jill sitzen ohnehin in sicherem Abstand von Trump und Melania, die - wie der Trump-Propagandist Richard Grenell eilig auf X berichtetet - ein Kleid von Valentino trägt.
Reden halten Trump zwei Stunden lang den Spiegel vor
Bei dem Gedenkgottesdienst geht es um andere Werte. Steven Ford, der Sohn des republikanischen Ex-Präsidenten Gerald Ford, den Carter nach der Watergate-Afäre und dem Vietnamkrieg im November 1976 aus dem Amt vertrieben hatte, hält eine ergreifende Trauerrede, die sein verstorbener Vater kurz vor dem eigenen Tod im Jahr 2006 auf den einstigen politischen Kontrahenden verfasst hatte. Nach dem Ausscheiden aus der Politik habe er mit Carter „eine meiner engsten Freundschaften“ geschlossen, heisst es in dem Manuskript. Im tief zerrissenen und polarisierten Amerika des Jahres 2025 klingt dies wie ein Zeugnis aus einer verlorenen Welt.
„Aufrichtigkeit“ und „Wahrhaftigkeit“ hielt Ford für die hervorstechendsten Qualitäten seines einstigen politischen Gegenspielers. „Gerechtigkeit“ und „Anstand“ werden im Nachruf des 2015 verstorbenen Carter-Vizepräsidenten Walter Mondale hervorgehoben. Carters „Rechtschaffenheit“ betont auch dessen Biograph Stuart Eizenstat. An „Anstand“ und „Aufrichtigkeit“ seines Großvaters erinnert sich dessen Enkel Jason Carter, der eindringlich das bescheidene Haus in Georgia beschreibt, in dem Carter mit seiner Frau Rosalynn 77 Jahre lebte. „Charakter, Charakter, Charakter“ preist schließlich Biden in seiner Trauerrede. Es ist, als würde Trump zwei Stunden lang der Spiegel vorgehalten.
Der 78-Jährige verfolgt die Zeremonie mit ungerührt-abweisendem Gesichtsausdruck. Selbst bei den heiteren Episoden zeigt er keine Regung. Als der Sarg mit den sterblichen Überresten durch den Mittelgang an den VIP-Bänken vorbeigetragen wird, greifen sich die anderen Präsidenten mit der rechten Hand ans Herz. Trumps Hand bleibt zunächst unten, dann findet sie sich irgendwo auf Bauchhöhe auf seiner Krawatte wieder. Beim „Vater Unser“ bewegt der künftige Präsident kaum die Lippen. Nach zwei Stunden ist der Gottesdienst vorbei. Bis zum nächsten wütenden Post im Internet kann es nicht lange dauern.