Vor einem Jahr hat Giorgia Meloni mit ihrer Rechtskoalition die Parlamentswahlen gewonnen. Außen- und finanzpolitisch konnte sie viele Bedenken zerstreuen - innenpolitisch agiert sie reaktionär und revanchistisch.
Italien ein Jahr nach der WahlMinisterpräsidentin Giorgia Meloni und ihre zwei Gesichter
Das Erstaunlichste ein Jahr nach dem Wahlsieg ist, welcher Beliebtheit sich Giorgia Meloni immer noch erfreut. Denn in den letzten Wochen haben sich auch ihre glühendsten Anhänger eingestehen müssen, dass Meloni nicht in der Lage ist, ihr wichtigstes Wahlversprechen einzulösen: die drastische Senkung der Migrantenzahlen.
Ausgerechnet unter der am weitesten rechts stehenden italienischen Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg ist seit dem 25. September 2022, dem Tag der Parlamentswahlen, genau das Gegenteil passiert: Die Zahl der Bootsflüchtlinge, die in diesem Jahr in Italien an Land gegangen sind, hat sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt, auf inzwischen 130.000. Die Bilder von Lampedusa, wo die Situation in der vorletzten Woche mit der Ankunft von 10.000 Migranten innerhalb von fünf Tagen komplett außer Kontrolle geraten war, hat die Wahlversprechen Melonis und ihrer rechten Regierungspartner als das entlarvt, was sie von Anfang an waren: als Wunschdenken und Propaganda.
Aber selbst das Desaster von Lampedusa perlt an der ersten Frau an der Regierungsspitze Italiens ab. Ihre persönlichen Zustimmungswerte sind seit ihrem Wahlsieg sogar noch um einige Prozente gestiegen, auf 45 bis 48 Prozent. Das ist im Vergleich zu ihrem Vorgänger Mario Draghi, dessen Popularitätswerte bei 70 Prozent lagen, zwar bescheiden - aber Meloni ist deutlich populärer als ihre eigene, postfaschistische Partei Fratelli d'Italia, die 20 Prozent hinter ihr liegt.
Die 46-jährige Römerin ist im letzten Jahr zu einer unverwechselbaren Marke geworden: Ihr loses Mundwerk, ihre ungestüme und zugleich bodenständige Art, ihr Humor, ihre Selbstironie und vor allem ihre beeindruckende Schlagfertigkeit haben ihr Respekt verschafft. Sie gefällt auch etlichen Linkswählern - sogar der frühere Chef des sozialdemokratischen PD, Ex-Premier Enrico Letta, hat erklärt, dass Meloni „besser ist als befürchtet“.
Die Putin-Verehrer in Schach gehalten
Mit dem ersten, zurückhaltenden Haushalt und dem klaren Bekenntnis zur Nato und zur militärischen Unterstützung der Ukraine hat Meloni auch die Bedenken der europäischen und atlantischen Partner zerstreut. Die beiden Putin-Verehrer in ihrer Koalition, Lega-Chef Matteo Salvini und der kürzlich verstorbene Ex-Premier Silvio Berlusconi, hat Meloni souverän in Schach gehalten. Auch die europafeindliche Rhetorik des Wahlkampfs hat sie als Regierungschefin eingestellt, ohne es mit ihren autokratischen Partnern in Polen und Ungarn zu verscherzen.
Eben erst brachte Meloni das Kunststück fertig, in Budapest mit Ministerpräsident Viktor Orbàn ein ultranationalistisches Loblied auf „Gott, Familie und Vaterland“ und den Schutz der Außengrenzen anzustimmen - um tags darauf mit EU-Präsidentin Ursula von der Leyen nach Lampedusa zu fliegen, um mit ihr ein gemeinsames Vorgehen und die Solidarität der EU-Partner einzufordern. Also genau das, was ihr souveränistischer Freund Orbàn nicht will.
Als grösste Schwäche Melonis und ihrer Partei hat sich in dem vergangenen Jahr dagegen ihr „vittimismo“ herausgestellt - also ihr selbstmitleidiges Gefühl, als Mitglied einer postfaschistischen Partei ein Leben lang benachteiligt, ausgegrenzt und mit Denk- und Sprachverboten belegt worden zu sein. Jetzt, wo sie an der Macht ist, will sich Meloni für diese Demütigungen revanchieren und die - tatsächliche oder vermeintliche - „kulturelle Hegemonie der Linken“ ein für allemal brechen und durch ein eigenes, nationalistisch-identitäres Narrativ ersetzen. Ein besonderer Dorn im Auge ist Meloni dabei alles, was dem Prinzip der „natürlichen Familie aus Mann, Frau und Kindern“ zuwider läuft oder nach politischer Korrektheit und „Gender-Ideologie“ riecht.
Abenteuerliche Verrenkungen, wenn es um Wurzeln im Post- und Neofaschismus der Parteiei geht
Bei ihrem innenpolitischen Feldzug gegen die „vaterlandslose Linke“ schreckt Meloni auch vor Albernheiten nicht zurück. So benutzt sie seit ihrem Amtsantritt stets den Ausdruck „la nostra nazione“, „unsere Nation“, wenn es um Italien geht. Außer ihr tut das kein Mensch: Wenn Italienerinnen und Italiener von ihrem Land sprechen, dann sagen sie „il mio paese“. Ihr „vittimismo“ zwingt Meloni außerdem immer wieder zu abenteuerlichen Verrenkungen, wenn es um die Wurzeln ihrer Partei im Post- und Neofaschismus geht.
Als Regierungschefin blieb Meloni nichts anderes übrig, als an den Veranstaltungen des 25. April teilzunehmen, dem „Tag der Befreiung“, an welchem der Sieg der antifaschistischen Partisanen und der Alliierten über die Faschisten Mussolinis und die mit ihnen verbündeten deutschen Nazi-Besatzer gefeiert wird. Nach langem Ringen mit sich selbst und den Duce-Fans in ihrer Partei hat sich Meloni schließlich zum Satz durchgerungen, dass es bei den Fratelli d'Italia „keinen Platz gibt für Nostalgie für die Mussolini-Diktatur“. Das Wort „Antifaschismus“ ging und geht ihr aber nicht über die Lippen.
Ideologisch und reaktionär agiert die Regierung auch beim Thema Sicherheit: „Law and Order“ lautet die Maxime, nicht nur bei schweren Straftaten, sondern auch bei Bagatelldelikten. Kaum im Amt, hat die Regierung die Strafandrohung für die Veranstaltung von nicht bewilligten Rave-Partys erhöht - auf sechs Jahre Zuchthaus. Minderjährige, die mit Drogen handeln, können nun für 5 Jahre weggesperrt werden.
Die jüngsten Strafverschärfungen betreffen Verkehrsdelikte: Wer beim Autofahren mit dem Handy telefoniert oder Textnachrichten tippt, wird künftig mit 1697 Euro zur Kasse gebeten - ein durchschnittlicher Monatslohn in Italien. Bestimmte Verschärfungen dürften sich auch kontraproduktiv auswirken. So können Eltern, die nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder zur Schule gehen, neuerdings zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt werden - es ist eher nicht zu erwarten, dass deren Kinder dann plötzlich den Unterricht besuchen. „Mehr Knast für alle!“, kommentierte der „Corriere della Sera“ sarkastisch die Manie der Rechtskoalition, jede Abweichung von der Norm und jedes gesellschaftliche Problem mit härteren Gefängnisstrafen und höheren Bussen lösen zu wollen.
Italiens Finanzhaushalt für 2024 steht bevor
Die Beliebtheit Melonis vermögen diese ideologischen und zum Teil auch psychologischen Limiten, die sie und ihre Regierungsmannschaft zu erkennen geben, wie gesagt nicht zu schmälern. Doch nun zeigen sich Wolken am Horizont: In den nächsten drei Monaten muss die Rechtsregierung den Finanzhaushalt für das Jahr 2024 beschliessen - „und das wird für uns zur Bewährungsprobe“, betont Finanzminister Giancarlo Giorgetti. Seit Wochen warnt er seine Regierungskolleginnen und -kollegen, dass für Sonderwünsche der Ministerien „kein Spielraum“ sei.
In der Tat haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten zwölf Monaten deutlich verschlechtert: Die Schulden sind im Juli auf den Rekordwert von 2860 Milliarden Euro gestiegen (142 Prozent des Inlandprodukts); wegen der Leitzinserhöhungen der EZB muss Italien schon in diesem Jahr 15 Milliarden mehr für den Schuldendienst ausgeben als vor einem Jahr. Hinzu kommen die Kosten der wahnwitzigen Bau-Subventionen, die die letzte Regierung von Giuseppe Conte nach der Pandemie erlassen hatte und die den italienischen Staat in den nächsten Jahren Dutzende von Milliarden an Steuerausfällen kosten werden.
Die absehbare Folge: Nach dem Versagen in der Migrationspolitik wird die Regierung aus Geldmangel auch noch eine Reihe anderer Versprechen brechen müssen, dank denen sie die Wahlen gewonnen hatte. Für teure Geschenke wie die von Lega-Chef Salvini versprochene Senkung des Rentenalters oder eine Einheitssteuer von 15 Prozent werden definitiv die Mittel fehlen. Aber auch die von Meloni im Wahlkampf versprochene Abschaffung der Treibstoffabgaben ist undenkbar - vielmehr hat die Regierung bereits in den letzten zwölf Monaten die von der Vorgänger-Regierung eingeführten Rabatte wieder aufheben müssen. Die Preise von Benzin und Diesel an den Tankstellen sind bereits wieder auf über zwei Euro pro Liter gestiegen, und das Einzige, was die Regierung dagegen unternehmen konnte, war die Einführung einer Pflicht für die Tankstellenbetreiber, neben den eigenen Preisen auch die nationalen Durchschnittspreise des Treibstoffs anzugeben.
Italien: Kaufkraft schwindet scheinbar unaufhaltsam
Gleichzeitig leiden die Italienerinnen und Italiener unter einer weiterhin starken Inflation und hohen Gas- und Strompreisen - die Kaufkraft schwindet scheinbar unaufhaltsam, und vor allem bei den jüngeren Bevölkerungsschichten macht sich zunehmend Resignation breit. Der von Meloni angezettelte Kulturkampf interessiert außerhalb der Römer Macht-Palazzi kaum jemanden - die Leute haben ganz andere Probleme. Im politisch ewig instabilen Italien wären dies normalerweise untrügliche Anzeichen einer bevorstehenden Regierungskrise - doch Giorgia Meloni hat eine politische Lebensversicherung: Die Opposition aus PD und Fünf-Sterne-Protestbewegung ist derart gespalten und personell schwach aufgestellt, dass sie für die Regierung und ihre Chefin keinerlei Gefahr darstellt. Die Einzige, die Meloni ein Bein stellen könnte, ist sie selber. (RND)